In der Freudschen Tradition gelten Träume als Schlüssel zum Unbewussten. Traumtagebücher sind Mittel der Selbst-Analyse. Andere halten Träume für ein zufälliges Beiprodukt des Schlafs, während das Gehirn den vergangenen Tag verarbeitet und sich regeneriert. Eines sind Träume in jedem Fall: sehr persönlich.
In vielen, eher auf die innere Entwicklung gerichteten, Autobiografien und Memoirs spielen Träume daher eine wichtige Rolle. Zuletzt las ich eindrucksvolle Traum-Sequenzen in Frank Witzels »Inniger Schiffbruch« und Edgar Selges »Hast du uns endlich gefunden«. Martin Walser hat gerade ein Buch veröffentlicht, in dem er ausschließlich von seinen Träumen erzählt: »Postkarten aus dem Schlaf«.
Gemeint sind also Träume als Trug-Bilder des Schlafs (»Traum« und »Trug« haben eine ähnliche sprachliche Herkunft) — keine Tagträume oder Lebens-Träume (Lebensthemen).
Schreibidee #102: Beschreibe einen besonders eindrucksvollen oder häufiger wiederkehrenden Traum.
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Eine Antwort zu “#102 — Träume”
Zweimal habe ich vom Tod geträumt. Zumindest sind mir diese beiden Träume in Erinnerung geblieben, als ich morgens aufwachte.
Wobei ich genauer sagen müsste, ich habe vom Sterben geträumt.
Das erste Mal war der Traum von Anna Karenina beeinflusst. Ich hatte die Verfilmung gesehen. Aber nicht danach träumte ich, sondern viele Jahre später, als wir in unserem Literaturkreis den Roman von Tolstoi lasen. Er muss eine Sequenz des Filmes in mir wachgerufen haben.
Eine riesige schwarze Lokomotive steht unter Dampf, ein schwarzes Eisenmonster. An die Lok angelehnt steht Anna, oder bin ich das? Ich/Anna bin in einen bodenlangen eleganten Mantel mit Pelzbesatz an Armen, Saum und an der Kapuze gekleidet. Meine/ihre Hände stecken in einem Muff. Wronskij steht mir/Anna gegenüber. Ich bin Teil der Szene, und gleichzeitig bin ich Zuschauerin.
In dem Moment spüre ich, wie das Leben aus mir herausfließt wie langsam ausgestoßener Atem. Ich rutsche langsam an der Lokomotive zu Boden. Ich bin mir bewusst, dass ich jetzt sterbe. Ich schaue nicht mehr bloß zu.
Sagt es Anna? Oder sind die Worte in meinem Kopf? Nur durch deine Barmherzigkeit allein.
Erstaunlicherweise wache ich ohne Aufregung auf.
Was den zweiten Traum beeinflusst hat? Ich weiß es nicht. Es war jedenfalls einige Jahre später.
Ich erinnere mich: Auf einem Sessel saß ein kleines Kind. Im Hintergrund stand ein erwachsener Mann. Beide waren mir nicht bekannt. Der Sessel des Kindes kippte um, und das Kind lag auf dem Boden. Der Mann rührte sich nicht. Da legte ich mich auf den Boden, auf meine rechte Seite und schaute das Kind an. „Ups“, sagte ich und wollte damit verhindern, dass das Kind weint.
In der nächsten Traumsequenz sitze ich mit dem Kind in einem Auto. Das Kind fährt. Mit im Auto sitzen H. und A., Freunde von mir. Dann sitzt plötzlich H. am Steuer, A. neben ihm. Ich bin weiter auf dem Rücksitz, das Kind ist verschwunden. Es geht einen steilen Berg hinauf, auf einem Weg mit zwei Fahrspuren, getrennt durch eine Grasstreifen. H. fährt sehr schnell.
Der Weg macht eine scharfe Biegung, und ich denke noch, die Kurve schafft H. auf keinen Fall. H. bremst nicht ab und wir fliegen aus der Kurve. Jetzt werden wir uns auf der Wiese überschlagen, geht es mir durch den Kopf. Aber da ist keine Wiese, da ist nichts. (Während ich das jetzt aufschreibe, erinnere ich mich an die Schlussszene aus dem Film Thelma und Louise.) Dann erkenne ich ganz tief unten verschiedene Wagendächer, Autos, die vor uns hier abgestürzt sind. Ein knallrotes Wagendach leuchtet besonders hervor. Ich will laut beten, da fällt mir ein, dass H. damit nichts am Hut hat. Stattdessen sage ich: Jetzt werden wir es ja gleich wissen, wie das ist nach dem Tod.
Beide Träume sind mir gut in Erinnerung. Und mich wundert, dass sie beide einen so frommen Schluss haben.