Anders als in Schreibidee #9 (Fotogeschichte) geht es hier um deine spontane Reaktion auf eine fremde oder fremdgewordene Fotografie. Vielleicht ist es ein altes, irgendwo in einer Schublade gefundenes Foto, dessen Anlass du schon vergessen hast. Ein biografisches Rätsel. Oder eines der Milliarden Internet-Bilder, das gerade jetzt eine besondere Schwingung, eine Resonanz, in dir hervorruft.
Um zu wirken, muss das Bild vielleicht vom Rest der Bilderflut getrennt werden, mir der wir es täglich zu tun haben. (So ist es auch mit Texten.) Darum füge ich hier zusätzlich zum Titelbild dieses Beitrags nur ein weiteres Bild ein, keine ganze Galerie.

(Urheberin und »Leihgeberin« beider Fotografien ist Urimua, deren E-Mail mich auch auf diese Schreibidee brachte.)
Schreibidee #104: Betrachte die Fotografie genau und beschreibe sie. Welche Reaktion/Resonanz ruft sie in dir hervor? Mit welchem Lebensereignis bringst du sie in Verbindung? Schreibe darüber.
2 Antworten zu “#104 — Fotografie als Schreibimpuls”
Im Puls der Fotografie „Island, hautnah“
(frei nach Stefans Gliederung):
– betrachte – beschreibe – reagiere
– lass klingen – bis dein ganz eigener Klang entsteht
– horch – etwas ganz Altes beschwingt dich
– kommt zum Greifen nah
– und dann schreibe – jetzt
(Stefans) Schreibideen
Ideen hat jeder – geschrieben wird viel –
doch (s)eine Schreibidee ist wie ein Telegramm:
Geschickt an mich (digital, doch ganz persönlich) –
dringend, plötzlich – hautnah und kompakt.
So eine Idee drängelt, schiebt an mir vorbei
– wie ein riesiger Klumpen aus Eis, der sich irgendwann
aus einer fernen, unbekannten Gletscherlandschaft löst
– mit noch unbekanntem Ziel
Sie unterbricht meinen Alltag von außen und ist doch lange schon ein Teil von mir
– wie dieses Wasser,
das sich mit seiner geballten eingefrorenen Kraft plötzlich überlebensgroß vor mir auftürmt
– und dieses andere Wasser, das gleichzeitig mich zeitlos trägt und am Leben erhält
Sie erzählt von Licht und Schatten bestimmter Ereignisse
– wie dieses uferlose Meer, das funkelnd, glitzernd
mich an einen ganz bestimmten Tag und Augenblick meines Lebens erinnert
und mit der Bewegung seiner Wellen mich auch die Schattenseiten ahnen lässt…
So eine Schreibidee schwappt, ruft, fordert, dröhnt
– wie dieser isländische Koloss – angeblich aus ewigem Eis –
so schreit auch dieses Gemenge an aufgeweckten Erfahrungen und Gedanken
nach Kontur und Form
Doch Schreiben ist wie Farbe bekennen – immer ein Abenteuer
– ich, als Tourist in der Zeit, unterschreibe das Gefühl eines Augenblicks,
dessen Farbigkeit und Musik ich mit eigenen Worten einfangen möchte –
Worte haben die Magie aller Farben des Lichts, ob transparent oder opak
Sprache warnt auch vor Gefahren, weckt Wünsche und Sehnsüchte
– und sucht den Menschen – wie dieser Klumpen aus isländischem Eis
“Tauben, das sind doch nur Tauben!” Mein kleiner Sohn, drei Jahre alt, hat ängstlich die Augen aufgerissen, keinen Schritt will er weiter gehen. Etwa 50 Tauben sind unmittelbar vor uns, picken nach Essensresten, fliegen hoch, landen wieder. Ich ziehe an seiner Hand, wir sind in Eile, müssen zum Augenarzt hier in der Stadt. Er beginnt zu weinen. Ich versuche ihn zu beruhigen, aber er wirft sich auf den Boden, bäuchlings, die Hände schützend über dem Kopf. Diese gackernden, pickenden, hektisch auffliegenden, federraschelnden Tauben haben ihn zu Tode erschreckt. Er weint so sehr, dass meine tröstenden Worte nicht zu ihm durchdringen. Ich nehme ihn auf den Arm, er birgt seinen Kopf an meinem Hals. Ich umarme ihn beschützend, schnellen Schritts jage ich durch die Taubenmeute, mein schluchzendes Kind eng an mich gepresst.
Es dauert viele Wochen, in denen wir
gemeinsam Fotos von Tauben auf dem Handy ansehen und kleine Videos. Ich versuche eine Desensibilisierung in Eigenregie. Irgendwann entdeckt mein Sohn, dass er weiße Hochzeitstauben recht sympathisch findet und es geht aufwärts mit dem Thema.
Heute sind ihm Tauben ziemlich egal.