Gestern lief ich an einem Auto vorbei und erlebte — peng — einen sehr kurzen, aber intensiven Erinnerungsblitz. Ich sah eine Form, als sei sie auf die Autotür projiziert. Zugleich hatte ich einen Geruch in der Nase, der weit aus der Vergangenheit zu kommen schien und wieder verschwand, bevor ich ihn einordnen konnte. Ich drehte eine kleine Runde, um noch einmal an der gleichen Stelle vorbeizukommen. Da erkannte ich, wodurch ich für einen Moment aus der Gegenwart geschleudert worden war.
Es war die Lackierung des Autos in Metallic-Rot. Mit zwölf oder dreizehn Jahren, vor meinem letzten Wachstumsschub, hatte ich ein Rennrad in der gleichen Farbe besessen. Nicht einfach nur Rot, sondern eben dieses Metallic-Rot. Irgendwo in meinem Kopf ist diese Erinnerung gespeichert, zusammen mit dem Geruch dieser Zeit, was auch immer so gerochen haben mag.
Überhaupt Autofarben: Sie wechseln in regelmäßigen Abständen. In unserer Gegend, wo viele Neuwagen gefahren werden, verändert sich geradezu das Straßenbild. Plötzlich sehe ich überall dieses Metallic-Rot und denke darüber nach, wie sehr ich es mochte, dieses Fahrrad zu besitzen. Leider wurde es mir schnell zu klein, irgendjemand kaufte es uns ab und es verschwand aus meinem Leben, samt seiner wundervollen Farbe.
Die Firma VW schickt neulich viele Autos vom Band, deren Grau mich an die Trabis erinnert, die ’89 endlich über die Grenze rollen durften. Industriefarben, die Farben eines Gemäldes, eines Kleidungsstücks oder einer Speise: Was regt dein Gedächtnis an?
(Ich besitze ein Buch des VEB Verlags für Bauwesen Berlin über Farbgestaltung. Wenn ich mir die 40 Farbmuster ansehe, die es enthält, fühle ich mich in den März 1990 zurückversetzt, als ich zum ersten Mal in Thüringen unterwegs war. Das Bild zu dieser Schreibidee stammt aus diesem Buch.)
Schreibidee # 105: Welche Farbe löst(e) bei dir eine intensive Erinnerung aus? Schreibe dazu eine Geschichte.
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2 Antworten zu “#105 — Farben”
Liebe Anneliese, danke für diese Geschichte über die wunderschöne Farbe Smaragd. Sie hat bei mir sofort Sehnsucht nach dem Süden ausgelöst und mich an das faszinierende Blau der Blauen Grotte auf Capri erinnert, gesehen vor dem großen Touristenrummel, im Sommer 1967 …
Besten Dank für diesen Erinnerungsschub sagt Helga
Smaragd
In meinem Schrank hängt ein Rock. Schmal geschnitten an den Hüften, dann in breite Falten ausgestellt. Seine Farbe? Ein Türkis, vielleicht nennt man die Farbe Smaragdgrün.
Wenn ich ihn von Zeit zu Zeit aus dem Schrank hole, ist da die Erinnerungen an mein Sabbatjahr. Das ist jetzt schon zwanzig Jahre her. Ich nahm mir eine Auszeit aus dem Beruf und reiste, mit Unterbrechungen bei meiner Familie zu Hause, ein Jahr lang durch Italien.
Ich war auf Sizilien. Ich hatte ein Zimmer bei einer jungen Italienerin in Cefalù. Cefalù liegt direkt am Meer. Immer hatte ich dieses Meer vor meinen Augen, wenn ich aus dem Haus ging. Je nach Himmel war es grau mit einem Glanz von Seide, dunkelblau mit weißen Schaumspitzen besetzt oder smaragdfarben über Kalkstein.
An manchen Abenden saß ich in einer Taverna auf einem kleinen Balkon über dem Meer. Hier beschloss ich meinen Tag mit einem Glas Wein und dem Meer. Meine Augen und meine Seele nahmen die Farben des Meeres in dem dunkel werden Tag wahr.
Eines Tages machte ich einen Ausflug nach Syrakus. Zunächst mit dem Zug nach Palermo, dann mit dem Überlandbus quer über die Insel. Farben über Farben: das vertrocknete Gelbbraun der Felder, das Dunkelgrün von Olivenhainen und Weinbergen, das Rotbraun der Dörfer, an denen wir vorbeifuhren. Dann das Hellgrau und Hellbeige der Häuser in Syrakus.
Ich fand ein B&B für eine Nacht, und dann ging es in die Stadt. Zunächst ans Meer, dann die historischen Bauten, die Kirchen. Essen auf einem großen Platz im Freien.
Am nächsten Morgen war noch Zeit für einen weiteren Stadtbummel, bevor der Bus zurückfuhr.
Und da war er! In einem Geschäft in der Auslage. Dieser Rock mit seiner einzigartigen Farbe des Meeres über Kalksteinboden bei Sonnenlicht. Er war nicht ganz preiswert, aber er stand für all meine Liebe zum Meer und seinen Farben und meinem Sabbatjahr. Ich ging in das Geschäft. Mein Italienisch reichte, um mit der Verkäuferin die richtige Größe, die Anprobe und den Preis zu klären. Stolz wie eine Königin fuhr ich zurück nach Cefalù.
Und so hängt der Rock in meinem Schrank. Lebendige Erinnerung an eine besondere Zeit meines Lebens. Er ist ein wenig eng geworden über die Jahre. Aber seine Farbe und meine Erinnerungen sind so frisch und so besonders wie die Zeit seines Kaufes.
Er hat genug Naht. Eigentlich könnte ich sie auslassen, und er würde wieder passen. Aber er ist für mich wie ein Bild, dass die Zeit meines Sabbatjahres einfängt und lebendig hält. Vielleicht sollte ich ihn mir rahmen lassen.