Ein literarisches Porträt ist eine kürzere, meist pointierte Beschreibung eines Menschen. In autobiografischen Texten geht es dabei oft um die Einführung eines wichtigen Wegbegleiters des Autors oder der Autorin. Die Mutter, eine Schwester oder eine Freundin wird dem Leser vorgestellt, bevor sie in die Handlung eingreift oder in einer Geschichte vorkommt. Ein Lehrer wird porträtiert, der bleibenden Eindruck hinterließ. Manchmal sind es auch beiläufige Bekanntschaften, kuriose Charaktere, Originale, die in einem Porträt für wenige Zeilen ins Licht gerückt werden, obwohl sie im Zusammenhang des Lebenslaufs nicht weiter von Interesse zu sein scheinen. Aus ganz unterschiedlichen Gründen möchte man ihnen ein kleines Denkmal setzen.
Herrliche Beispiele für Porträts finden sich in Hildegard Knefs berühmter Autobiografie »Der geschenkte Gaul«, die mit Berliner Lakonie und sprachlicher Eigenständigkeit auch in anderer Hinsicht überzeugt. Eines gleich am Anfang, im ersten Kapitel, das als einziges nicht nummeriert ist, sondern den Titel »Liebeserklärung an einen Großvater« trägt. Im allerersten Abschnitt porträtiert die Knef ihren Großvater so:
Meiner hieß Karl, er war mittelgroß und genauso kräftig, wie er aussah. Er trug den Kopf sehr gerade, die Wirbelsäule auch, und er hatten einen großen Mund mit vielen Zähnen; er hatte sie noch alles 32, als er mit 81 Jahren Selbstmord machte. Sein Jähzorn war das Schönste an ihm, erstens weil er sich nie gegen mich richtete und weil er so wild und rasch kam, wie er verging, und wenn vergangen, wurde sein Gesicht warm wie ein Dorfteich in der Sommersonne und seine Bewegungen verlegen und einem fischenden Bären gleich.
Was macht dieses Porträt so überzeugend? Einige Aspekte:
- Die äußerliche Beschreibung hat durchweg einen symbolischen Unterton. Das Äußere wird nicht einfach abgeschildert, sondern bedeutet etwas.
- Die exakte Wortwahl. Er “beging” nicht Selbstmord, er “machte” ihn. Das ist kein Ausrutscher ins Umgangssprachliche, sondern drückt eine Haltung aus.
- Die Charakterisierung steckt voller Konflikte. Kraft und Zärtlichkeit scheinen miteinander zu streiten.
- Die stimmungs- und humorvollen Metaphern.
Schreibidee #17: Schreiben Sie das Kurzporträt eines Menschen aus ihrem Leben.
1. Hinweis: Wählen Sie fürs Erste niemanden aus, der Ihnen sehr nahe steht. Die Kunst des literarischen Porträt lässt sich besser an Menschen üben, die zwar eine Rolle spielten und von denen man ein klares Bild erinnert, von denen man jedoch nicht allzu viel weiß. So fällt die Auswahl leichter und man sieht eher das Charakteristische.
2. Hinweis: Schreiben Sie zunächst eine DIN-A-4-Seite über die ausgewählte Person und kürzen Sie Ihr Porträt anschließend mindestens auf die Hälfte. So beschränkt sich Ihre Schilderung auf das Wesentliche — und die geschilderte Person tritt für die Leser stärker hervor, als es bei sehr langen Beschreibungen der Fall wäre.
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2 Antworten zu “#17 — Ein Porträt”
Porträt meines Opas
Ich habe ihn nie kennengelernt, meinen Opa mütterlicherseits. Wenig hat mir meine Mutter von ihrem Vater erzählt, der gestorben ist, als sie noch ein junges Mädchen war. Schreiner war er, was auch sein „Hausname“ verriet: Der Mader-Schreiner wurde er genannt.
Ein Foto gibt es, auf dem er zu sehen ist. Mit erhobener Faust steht er inmitten einer Gruppe Männer. Diese geballte Haltung könnte ein Indiz dafür sein, warum er später einige Zeit im Lager Dachau verbrachte. Gehörte er zu den paar Aufmüpfigen in einem Winkel des Bayerischen Waldes, wo das Leben Mitte der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts so überaus unwirtlich und hart war? War es Widerstand gegen die Ungerechtigkeiten und die Regierenden jener Zeit? Nur an soviel erinnerte sich meine Mutter: Er wurde als „Kommunist“ verpfiffen und hat nach seiner Rückkehr aus dem Lager seiner Familie nichts von der Zeit dort erzählt.
Vielleicht ist etwas von seinem Charakter nach mehreren Generationen auf einen meiner Söhne übergegangen, der sich auch nicht so ganz ins gängige Familienschema einreihen lässt. Bereits als Kind hat er gegen jede Ungerechtigkeit, die ihm bewusst wurde, rebelliert – lautstark und manchmal zum eigenen Schaden.
Liebe Frau Fernekeß,
vielen Dank für Ihr Porträt. Es setzt das Bild Ihres Großvaters zusammen aus den wenigen Informationen, die sie über ihn erhalten haben. Die “mündliche Überlieferung” ersetzt gleichsam die Auswahl. Eine spannende Variante. Solche “Legendenbildung”, in der Familie oder im öffentlichen Raum, bietet Gelegenheit für Spekulationen (“Vielleicht ist etwas von seinem Charakter …”) und Identifikation.
Noch ein Nachtrag zur “Kürzungsmethode” im zweiten Hinweis (auf das Sie in Ihrem Begleitschreiben eingingen): Wenn der Text nach der Kürzung unvollständig zu sein scheint und nicht mehr funktioniert, kann es daran liegen, dass es vor allem erzählerische Elemente enthielt, also eher eine Geschichte als ein Porträt darstellte. Eine Geschichte braucht Anfang-Mitte-Schluss, hier kann also nicht so leicht gekürzt werden. Oder aber, es wurde versucht, die Entwicklung der porträtierten Person zu beschreiben. Entwicklungen sprengen jedoch den Rahmen eines Porträts, so wie ich es verstehe. Wie ein Porträt-Foto oder ein Gemälde zwar neben dem bloß Äußerlichen auch etwas vom Charakter und der Wesensart des Porträtierten zeigen kann, aber nur wenig über die Gründe dafür.