In Schreibidee #38 ging es um den »heimlichen Lehrplan«. Natürlich gibt es auch einen offiziellen. Und es gibt Lehrer, deren Persönlichkeit und Verhalten Spuren im Leben ihrer Schüler hinterlassen können.
Ein Blogartikel der Lyrikerin und Bloggerin Martina Weber und die Kommentare dazu passen hier wunderbar. Er ist betitelt »Die Magie einer Berufsgruppe mit potentiell lebenslangem Einfluss« und handelt eben von Lehrerinnen und Lehrern. Es lohnt sich, ihn komplett zu lesen (siehe unten).
In einem Kommentar erinnert sich »Gregor« (Auszüge):
Oberstudienrat S war von 1970 bis 1973 mein Deutschlehrer. Er war damals knapp über 50 Jahre alt, immer korrekt gekleidet, stets im Anzug, weißes Hemd mit Manschettenknöpfen und natürlich Schlips. Sein Unterricht war anspruchsvoll, er war immer bestens vorbereitet und litt sichtlich, wenn er das Ziel seiner Stunde nicht erreichen konnte, er sagte dann gerne »mir geht die Stunde in die Binsen.«
[…] Dann wurden natürlich auch ganze Bücher gelesen und zwar gründlich z.B. Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz, Goethe: Wahlverwandtschaften und eben Peter Handke: Kaspar.
Das war für mich der Knüller, wie man damals sagte, ich war vollkommen begeistert. Ab diesem Zeitpunkt sollte mich Peter Handke mein Leben lang beschäftigen. Zu danken habe ich diese Bekanntschaft meinem Deutschlehrer, der sich traute, vollkommen Neues mit uns Schülern zu lesen und vor allem uns etwas zuzutrauen.
Immer wieder wollte ich mich bei Herrn S für seinen wunderbaren Deutschunterricht bedanken […]
Leider schob ich mein Dankesvorhaben auf die lange Bank. Als ich ihn eines Tages endlich anrief, war es zu spät, seine Frau sagte mir, ihr Mann sei vor kurzen gestorben, am 14.05.2005.
Schreibidee #39: Erzählen Sie von einem Lehrer oder einer Lehrerin, deren Unterricht oder Persönlichkeit für Sie wichtig war.
Hinweis: Beschreiben Sie die Lehrerin oder Lehrer auch äußerlich und erzählen Sie alles, was Sie von ihr oder ihm wissen. Versuchen Sie, sie oder ihn als Person zu erfassen, bevor sie auf den »lebenslangen Einfluss« zu sprechen kommen.
Die Magie einer Berufsgruppe mit potenziell lebenslangem Einfluss
[Wie immer fände ich es toll, wenn Sie Ihren Text zu dieser Schreibidee unten in die Kommentarbox kopieren und hochladen würden. Damit geben Sie zugleich Ihr Einverständnis für die Veröffentlichung auf diesen Internetseiten. Ich wünsche Ihnen viele Leser — und reichlich hilfreiches Feedback.]
2 Antworten zu “#39 — Lehrer”
Er war kein schöner Mann. Also nicht in dem Sinne schön, dass wir, 16-, 17jährige Schülerinnen, von ihm geschwärmt hätten. Dafür war er auch schon zu alt, mindestens Ende dreißig. Und dennoch faszinierte er uns und beschäftigte unsere Phantasie. Man munkelte, er sei ein Sozialdemokrat. Uh! Und das galt an unserer Schule, von Ordensschwestern geführt, als gefährlich. Wenn überhaupt eine Partei, dann kam eigentlich nur die CDU in Frage. Auch stammten wir alle aus eher konservativen Familien. Sozialdemokratie war kurz vorm Kommunismus.
Wieso durfte er uns überhaupt unterrichten? Die Schule, auf die ich damals ging, war eine in ein Krankenhaus eingegliederte Pflegevorschule. Sie dauerte drei Jahre und führte Mädchen nach der Volksschule zur Sozialen Mittleren Reife. Diese war Voraussetzung, um nach bestandener Prüfung in die Krankenpflegeschule aufgenommen zu werden. Schulischer Unterricht am Nachmittag und Einsatz in den verschiedenen Bereichen des Krankenhauses am Vormittag gehörten zusammen. Vielleicht waren nicht so viele Lehrer bereit, neben ihrem normalen Unterrichtspensum auch noch zusätzlich uns zu unterrichten.
Für einen Mann war er nicht sonderlich groß. Er trug immer Jeans, auch das war für uns damals noch etwas Besonderes, Hemd oder Pulli und ein Jackett. Und – nie sah man ihn ohne roten Schal um den Hals. Der Schal wurde zu Beginn des Unterrichts abgenommen und in den Händen gehalten oder auf dem Pult abgelegt.
Ich erinnere mich noch gut an seine blauen Augen in einem recht faltigen Gesicht. Die Farbe seiner kurz geschnittenen Haare war irgendwo auf dem Weg zum Blond stehen geblieben.
Alles an ihm war in Bewegung. Mit lockeren Schritten durchmaß er den engen Raum des Klassenzimmers. Setzte sich auf seinen Stuhl, stand sofort wieder auf, lehnte sich kurz ans Pult und nahm dann seinen Gang durch den Klassenraum wieder auf. Mit seinen Armen und Händen bewegte er die Luft um sich. Hatte er seinen Schal noch in den Händen, wirkte es, als würde das Gesagte rot unterstrichen. Er verschränkte die Hände vor dem Bauch, die linke wanderte in seine Hosen- oder Jackentasche, während die rechte weiter gestikulierte. Kapierten wir etwas nicht, fuhr er sich mit beiden Händen durch Gesicht und Haare und erklärte uns den Sachverhalt noch einmal.
Auch in seinem Gesicht war alles in Bewegung, der Mund, die Augen, die Stirn wurden zusammengefaltet und wieder entspannt.
So, immer in Bewegung, lernten wir Geschichte bei ihm.
War er ein guter Pädagoge? Ich weiß es nicht (mehr). Immerhin habe ich später Geschichte studiert.
Seine besondere Bedeutung für mich und mein Leben zeigte sich in einer Unterrichtspause.
Ich hatte schon länger gemerkt, dass Krankenschwester nicht der richtige Beruf für mich war. Aber ich wusste noch nicht, in welche Richtung es gehen könnte. Was sollte ich machen, wenn die Pflegevorschule zu Ende war? Darüber sprach ich mit ihm. Und er, er erzählte mir vom Ketteler-Kolleg in Mainz, einer Abendschule, auf der man das Abitur nachholen kann, um dann zu studieren.
Ein Gespräch, vielleicht fünf Minuten, und es führte mich auf einen Weg in ein erfüllendes berufliches Leben.
Angeregt durch diese Schreibübung, googelte ich den Namen meines Lehrers. Er ist im März dieses Jahres gestorben. Schade, dass ich ihm nie sagen konnte, wie wichtig er für mein Leben gewesen ist.
Liebe Frau Wohn, vielen Dank für dieses tolle Porträt. Die Bewegung, der Schal, die Geste, sich mit beiden Händen übers Gesicht zu streichen, das vermittelt zusammen ein wunderbar deutliches Bild dieses Lehrers. Schade, dass er den Text nicht mehr selbst lesen kann.