Oft wird angenommen, dass das Verhältnis zum gleichgeschlechtlichen Elternteil wichtiger oder bedeutsamer sei, als das zum andersgeschlechtlichen. “Keine Beziehung ist so bedeutsam, so innig, so verwirrend wie die zwischen Mutter und Tochter”, heißt es etwa im Magazin der Süddeutschen Zeitung (vom 8. März 2019).

Das Magazin veröffentlichte eine Reihe von (offenen) Briefen bekannter Töchter an ihre noch lebenden oder schon verstorbenen Mütter. Von der Lyrikerin Nora Gomringer, von Monika Hohlmeier (der Tochter von Franz Josef Strauß), von Bettina Röhl, Tochter von Ulrike Meinhof, von Margot Käßmann und den Schriftstellerinnen Jagoda Marinić, Ingrid Noll und Natascha Wodin.

Briefe sind eine sehr subjektive Textsorte. Schreibende und Lesende kennen einander, darum muss nicht viel erklärt werden. Man kommt schnell zum Wesentlichen, in diesem Fall zu dem, was die Mutter der Tochter bedeutet oder bedeutete. Am schönsten ausgedrückt habe ich es bei Jagoda Marinić gefunden:

Du hast mir das Meer gezeigt, obwohl du selbst nicht schwimmen konntest.

Dass in einem solchen Brief eine Menge “Biografiearbeit” steckt, leuchtet sofort ein. Es geht um Prägendes, um das Koordinatensystem des Lebens. Wie man die eigene Mutter sieht, hängt von der Richtung ab, in die man sich bewegt hat — und diese lässt sich nur bestimmen, indem man auf den Ursprung blickt.

So individuell die Briefe jener Töchter sind, es finden sich auch Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel taucht häufig das Thema der Anrede auf:

… es fängt damit an, dass ich nicht weiß, wie ich Dich ansprechen soll. Als Kind nannte ich Dich »Mama«, manchmal wahrscheinlich auch »Mamulja«, aber da Du vor über sechzig Jahren gestorben bist und ich inzwischen eine alte Frau geworden in, kommt mir das Wort »Mama« nicht mehr über die Lippen. Das Wort ist in meiner Kindheit geblieben, […]

Natascha Wodin

Liebe Mutter, früher haben wir dich Mutti genannt, aber in den letzten Jahren deines Lebens schien mir Mutter mehr Würde auszudrücken.

Margot Kässmann

Majko, du liebtest es, wenn ich Majko zu dir sagte, so wie du schon zu deiner Mutter. Wenn ich dich beim Vornamen rief, verdunkelte sich dein Gesicht. Das sei nichts für eine Tochter. Du, die sonst alles Weibliche für Schwäche hielt, […] liebtest es, mit dem weichsten aller Mutterwörter gerufen zu werden.

Jagoda Marinić

Die Texte sind so dicht und gefühlsstark, dass ich nach fast jedem den Eindruck hatte, auf zwei Seiten eine halbe (Auto-)Biografie gelesen zu haben. Dann legte ich das Magazin für eine Weile beiseite, um später wieder für eine neue Mutter-Tochter-Geschichte bereit zu sein.

Schreibidee #47: Schreiben Sie einen Brief an Ihre Mutter, worin Sie Ihre Beziehung zu ihr zur Sprache bringen.

Hinweis 1: Natürlich können Sie auch an Ihren Vater schreiben, wenn Ihnen das näher liegt. In einem früheren Heft des Magazins (Nr. 38/2018) schrieben Söhne Briefe an Ihre Väter.
Ob die Beziehungen zum gleichgeschlechtlichen Elternteil tatsächlich so viel bedeutsamer sind als die zum andersgeschlechtlichen, als die zwischen Töchtern und Vätern, Söhnen und Müttern, sei dahingestellt. Ich vermute, dass auch diese einen Brief wert wären.

Hinweis 2: Vermeiden Sie psychologische Analysen. Erzählen Sie einfach, was Ihnen an der Mutter/am Vater besonders wichtig war, was Sie bemerkenswert finden und Sie auf die eine oder andere Weise geprägt hat.

Hinweis 3: Sie müssen nicht chronologisch erzählen. Ihre Mutter kennt Sie. Überlegen Sie stattdessen, was Sie ihr gerne mitteilen würden und schreiben sie es ganz direkt.

P. S.: Vielen Dank an Anneliese Wohn, die mir den Artikel aus dem Süddeutsche-Magazin zuschickte.