Der irische Dichter Graham Allen schreibt seit dem 23. Dezember 2006 jeden Tag eine Zeile mit zehn Silben auf seine Internetseite holesbygrahamallen.org. Das Werk, das so entstand und weiterhin entsteht, nennt er »Holes«, »Löcher«.
Das digitale Gedicht, das sich aus den täglichen Versen zusammensetzt, ist zugleich eine Art Tagebuch. Ein äußerst verdichteter und zugleich »löchriger«, aber vielleicht doch charakteristischer Ausdruck eines Lebens. Ein Text jedenfalls, der trotz aller Kunstfertigkeit eng mit Allens Leben verknüpft ist. Hier eine zufällig ausgewählte Kostprobe (mit meinen Übersetzungen):
2011-05-01 Arsenal Football Club is having a laugh. 2011-05-02 An eye for an eye makes the whole world blind. 2011-05-03 History makes all my fingers shiny. 2011-05-04 Three years without a single cigarette. 2011-05-05 She always shows me her innocent legs. 2011-05-06 She came toward me as if she wanted … 2011-05-07 YU55 is wrecking my head. 2011-05-08 This is a film in which everyone dies. 2011-05-09 No one sneezes their way to victory. 2011-05-10 Came home and read Paddy Galvin all night. 2011-05-11 The rushing man looks and sees a brick wall. 2011-05-12 Each day of your life is a single frame. 2011-05-01 Der Arsenal-Fußballverein macht Scherze. 2011-05-02 Auge um Auge macht die ganze Welt blind. 2011-05-03 Die Geschichte wetzt meine Finger ab. 2011-05-04 Drei Jahre ohne eine einzige Zigarette. 2011-05-05 Sie zeigt mir ständig ihre unschuldigen Beine. 2011-05-06 Sie kam mir entgegen als wollte sie … 2011-05-07 YU55 ruiniert meinen Kopf. 2011-05-08 In diesem Film sterben alle. 2011-05-09 Niemand niest sich auf die Siegerstraße. 2011-05-10 Kam nach Hause und las die ganze Nacht Paddy Galvin. 2011-05-11 Der eilige Mann schaut auf und sieht eine Backsteinmauer. 2011-05-12 Jeder Tag deines Lebens ist ein einzelner Rahmen.
Manche Zeilen wirken unzusammenhängend, neu angesetzt, andere beziehen sich aufeinander. Graham kann nichts löschen. Wenn er eine neue Zeile schreibt, muss er mit dem Vorherigen auskommen und es akzeptieren, wie sich auch die vorhergehenden Tage nicht mehr ändern lassen.
Schreibidee #48: Schreiben Sie einen Monat lang jeden Tag eine Zeile in ein Heft. Wählen Sie jeweils einen Gedanken oder einen Eindruck, der für den Tag charakteristisch ist oder führen Sie die vorhergehenden Zeilen fort.
HInweis 1: Am Anfang wird es sich wohl seltsam anfühlen, mit der Zeit aber entwickeln Sie ein Gefühl dafür, was sich so (be-)schreiben lässt. Lesen Sie nach einem Monat, was Sie geschrieben haben und überlegen Sie, ob Sie das Experiment weiterführen möchten.
HInweis 2: Tagebuch-Apps für Smartphone (z.B. “GridDiary” oder “Moment Tagebuch”) können helfen, sich an die tägliche Zeile zu erinnern. Oder man beschriftet einen Notizzettel, den man zugleich als Lesezeichen verwendet.
5 Antworten zu “#48 — Eine Zeile pro Tag”
Lieber Herr Stefan Kappner,
Seit ich diesen ihren Impuls gelesen habe, schreibe ich täglich eine Zeile, manchmal wird sie länger, manchmal kürzer, immer werde ich herausgefordert, das meines Alltags zu überdenken und in wenige Worte zu kondensieren.
Danke für den Impuls
Das .. Wesentliche?
Sehr schön, empfehlen Sie mich, d.h. biografika gerne weiter. Die Seite soll noch wachsen!
YES,
NOT A DAY WITHOUT A LINE!
EIN TAG IST GANZ , WENN ICH IHM UND MIR EINEN STRICH MIT FEDER ODER PINSEL SCHENKE!
Nulla dies sin linea!
Lieber Ruprecht Frieling, danke für die Erinnerung an dieses Schriftstellermotto. Interessant, was Sie auf Ihrem Blog so schön darüber geschrieben haben.