Schreiben mit festen Satzanfängen ist eine der schnellsten und effektivsten Methoden, in den Schreibfluss zu kommen. Wenn wir einen Satzanfang hören oder lesen, drängt es uns ganz von allein, ihn zu vervollständigen. Das lässt sich zum Beispiel nutzen, um ein bestimmtes Thema in den Mittelpunkt zu stellen, zum Beispiel das mit dem biografischen Schreiben eng verbundene Thema der Herkunft.
In einer meiner Schreibwerkstätten beschäftigten wir uns mit dem 2019 erschienenen autobiografischen Buch »Herkunft« von Saša Stanišić. Daraus stammt folgende Passage:
Herkunft ist Großmutter. Und auch das Mädchen auf der Straße, das nur Großmutter sieht, ist Herkunft.
Saša Stanišić: Herkunft, Luchterhand LIteraturverlag, München 2019, S. 66f.
Herkunft ist Gavrilo, der zum Abschied darauf besteht, dass ich eines seiner Ferkel nach Deutschland mitnehme.
Herkunft ist in Hamburg der Junge mit meinem Nachnamen. Er spielt mit dem Flugzeug. Ich frage: »Wo fliegst du hin?« — »Nach Split, zu Nana.« […]
Herkunft sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben. Sie ist Zugehörigkeit, zu der man nichts beigesteuert hat. […]
Hier zwei der Texte, die in Anlehnung an diese Passage entstanden:
Herkunft ist für mich meine Kommodenschublade in den ersten Lebenswochen.
Roswitha Schneider
Herkunft ist für mich das Herausgerissen werden in der Nacht bei Fliegeralarm.
Herkunft ist für mich der Fliegeralarm.
Herkunft ist für mich meine Mutter mit ihrer Leibesfülle und Kraft, ihren Einfällen, die das Leben in der Not besser machten.
Herkunft ist später auch der Vater, hustend, schlafend, ruhend.
Herkunft ist meine große Schwester, die mich wie ein Püppchen behandelte.
Herkunft ist die weiß-rosa Heckenrose am Haus und das metallene Walzen der Rollschuhe auf dem Trottoir.
Herkunft ist der Blick auf die Rennbahn mit ihrem Sonnenaufgang in Spiegelei-Rot und die trainierenden Jockeys.
Herkunft ist meine Volksschullehrerin mit ihren freundlich dunkelbraunen Augen.
Herkunft ist der See, in Nebelschwaden gehüllt im Herbst, ruhig und düster.
Elke Wennekamp
Herkunft sind meine Eltern, die sich vom Ort ihrer Herkunft entfernten, um eine neue Heimat zu finden.
Herkunft ist das Sehnen der Seele nach Wurzeln und Zugehörigkeit.
Herkunft ist für meine Kinder etwas anderes als für mich. Würde ich sie fragen, und ich müsste zum besseren Verständnis fragen: Woher kommt Ihr?, wäre die Antwort vielleicht: Aus Oberursel, ist doch klar. Und sie würden mich dabei verständnislos ansehen, dass ich so eine dumme Frage stelle.
[…]
Herkunft ist ein Teppich, den ich webe aus Szenen meines Lebens und selbst entscheide, was hineinkommt und was ich weglasse.
Herkunft sind die Narben auf der Seele, die Glücksmomente im Herzen.
Herkunft ist die Kraft, den Blick von der zerklüfteten Landschaft der Vergangenheit loszureißen und in die Zukunft zu blicken, auf ein weißes unbeschriebenes Blatt Papier, und den Stift anzusetzen.
Schreibidee #53: Schreiben Sie fünf oder mehr Sätze, die jeweils mit den Wörtern »Herkunft ist … « beginnen.
Hinweis 1: Wie Sie an den Beispielen sehen können, bildet die Mischung von allgemeinen Aussagen mit konkreten Erinnerungen einen schönen Effekt.
Hinweis 2: In Schreibgruppenidee #G1 können Sie sich vom Satzanfang »Ich erinnere mich …« zum gemeinschaftlichen Erinnern anregen lassen.
3 Antworten zu “#53 — Herkunft ist …”
Herkunft ist die Familie und der Ort, die sich die Seele ausgesucht hat.
Herkunft ist dort, wo wir aufgenommen und aufgezogen wurden.
Herkunft ist dort, wo wir die ersten Spielkameraden gefunden haben.
Herkunft ist dort, wo die Nachbarn uns beim Namen genannt haben.
Herkunft ist dort, wo wir noch auf den Straßen gefahrlos Fußball gespielt haben und gerodelt sind.
Herkunft ist dort, wo wir noch weite Schulwege hatten, und uns dabei gut unterhielten.
Herkunft ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin und den ich nicht vergesse, obwohl ich schon frühzeitig weggezogen bin, und …
… wo man von vielen Menschen noch erkannt und begrüßt wird, wenn man wieder zu Besuch kommt.
Herkunft ist etwas magisches, geheimnisvolles, sich unserem Verstand entziehendes, wenn wir bis in die Vorgeburt und früher zurückschauen wollen
Herkunft ist wichtig zu ermitteln, um uns im Hier und Jetzt zu verstehen und sinnvoll weitergehen zu können
Herkunft ist, in einem Örtchen in ländlicher Gegend geboren und aufgewachsen zu sein, und von dort aus die kleine und größere Welt entdeckt zu haben
Herkunft ist mir ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl von Lebensmittel; Produkte aus lokalem und biologischem Anbau bzw. Herstellung und Verarbeitung ziehe ich vor
Herkunft ist durch Zufall im Westen Deutschlands geboren zu sein, obwohl Eltern und die Vorfahren aus Stettin und Usedom stammen.
Herkunft ist das Gemisch von Wahrnehmungen, wenn Mutter aus der damaligen Oberschicht stammt und Vater, ein begabtes Arbeiterkind, wegen Uneinsichtigkeit der Eltern kein Gymnasium besuchen darf.
Herkunft ist, wenn man im späteren Leben Nischen findet, einen Teil der nicht geförderten Anlagen und Sehnsüchte noch stückweise verwirklichen kann.
Herkunft ist, immer zwischen den gesellschaftlichen Stühlen zu sitzen, ein Arbeiterkind mit adligen Vorfahren auf einem humanistischen Gymnasium, eine Bankreihe vor Hans von Zigesar und dem späteren Fraport-Chef Wilhelm Bender.
Herkunft kann ziemlich verwirrend sein.
Herkunft kann einsames Fragen sein, das mit einem Spott treibt.