In seinem Buch »Herkunft« schildert Saša Stanišić , wie er bei den Akademiker-Eltern seines Freundes Rahim zu Abend isst. Und wie schwierig er es fand, selbst Gäste zu sich nach Hause einzuladen. Aus Scham, dass die eigene Wohnung und der Lebensstil der Familie nicht dem deutschen Standard entsprechen mochte.
Bei Rahim und mit seinen Eltern hatte ich mich nie unwohl gefühlt. In ihrem Leben, das aus hunderten Büchern nach Neugier roch und aus ausgedehnten Mahlzeiten nach gelungenem Zeitmanagement. Jedes Familienmitglied hatte ein Zimmer für sich. Rahims Vater im Keller noch das Arbeitszimmer und eine Sammlung syrischer Kochutensilien oder Waffen, wer weiß das schon.
Saša Stanišić: »Herkunft«, Kapitel »Gäste«
Die Eheleute erzählten am Ende des Tages ausführlich von Anfang und Mitte des Tages und hörten einander zu. Einander zuhören am Ende des Tages empfand ich als immens wohltuend, sogar als komplett Außenstehender, der dabei war, als wäre er nicht dabei […]
Besuche bei »fremden Leuten«, in anderen Elternhäusern und Umgebungen, eröffnen neue Perspektiven auf die eigene Familie, und auf das Leben überhaupt.
Gerade Kinder und Jugendliche finden das spannend. In diesem Alter spielen Schicht- und Standesgrenzen noch eine geringere Rolle. Weil Kinder weniger Wert darauf legen, »unter sich« zu bleiben. »Aha, auch so kann man also leben«, dachte ich selbst, als ich bei einem Schulfreund zum »Palatschinken« eingeladen worden war, der seltsamerweise nichts mit Schinken zu tun hatte, und danach alle am Tisch »Schwarzer Peter« spielten.
Schreibidee #57: Erzählen Sie von einem denkwürdigen Besuch bei Freunden oder Fremden.
Hinweis: Natürlich kann es auch um Unerfreuliches gehen: Wo wurden Sie schlecht behandelt, erlebten Streit, gingen hungrig nach Hause? Oder um den ritualisierten Besuch bei Verwandten, um Einladungen in fremden Ländern, …
5 Antworten zu “#57 — Zu Besuch bei …”
“… ihr Aufenthalt in Rom erweist sich als äußerst ergiebige literarische Inspirationsquelle. Wie wäre es, Sie würden ihn einmal im Zusammenhang beschreiben?” Danke für die Anregung, Herr Kappner . Vielleicht sollte ich das tatsächlich tun, bevor die Erinnerungen noch mehr verblassen 😉 .
Lieber Herr Kappner,
was für eine hübsche Schreibidee und gute Gelegenheit, sich wieder einmal an liebe, alte – in der Zwischenzeit schon lange verstorbene – Menschen zu erinnern.
LG
Helga Fernekeß
Einladung zum Tee
Immer wenn ich in Rom war, meinte sie, sie müsste mich zum Tee einladen. Dabei wäre mir ein Espresso oder von mir aus auch ein Cappuccino lieber gewesen.
Ich hatte nichts dagegen, sie zu treffen. Sie freute sich, wenn sie jemand aus ihrer alten Heimat besuchte, obwohl sie auf keinen Fall wieder zurück nach Deutschland wollte. Aber mit dieser Tee-Einladung kommt ihre norddeutsche Abstammung doch wieder durch. Von irgendwo in der Nähe von Hamburg hatte es sie vor sehr langer Zeit in den Süden verschlagen. Dann kam die Liebe ins Spiel. Aus dem jungen, weizenblonden Mädchen Anna war eine „degli Uberti“ geworden. Aber der Von-Titel hatte ihr nicht viel genützt. Außer der bescheidenen Wohnung in einem Altbau in Florenz, angefüllt mit alten Möbeln, viel Plüsch und Nippes, waren von der Zeit mit ihrem Mann nur Erinnerungen übrig geblieben. Sie hatte sich dort in Florenz nicht wohl gefühlt, das Klima behagte ihr nicht. Die heißen schwülen Sommermonate, die laute stickige Altstadt von Florenz machten sie krank.
Bald nach dem Tod ihres Mannes ging sie nach Rom. Mit Gelegenheitsarbeiten als Komparsin bei Filmaufnahmen in Cinecittà verdiente sie sich ihren Unterhalt. In „Vier Fäuste für ein Halleluja“ sprang sie vom Balkon einer Western-Saloon-Kulisse in einen Strohballen, für ein paar Tausend Lire und einen verknacksten Knöchel. Im Film „Die Gärten der Finzi Contini“ war sie das deutsche Kindermädchen und musste sogar einen winzigen Satz auf deutsch sagen, was ein bisschen mehr Gage einbrachte. Von dem was ihr von früher geblieben war und durch ihre sparsame Art konnte sie sich eine kleine Wohnung im Parioli-Viertel leisten und bescheidene aber glückliche Jahre verleben. Tom, ein Engländer, etliche Jahre älter als sie, leistete ihr dabei Gesellschaft.
Ich erinnere mich, wie ich wieder einmal wissen wollte, wie es ihr geht – trotz ihres Alters immer noch gut – und darauf die unweigerliche Einladung zum Tee folgte. Dabei wäre mir – wie gesagt – ein Espresso oder Cappuccino lieber gewesen und sie bräuchte auch nicht bis zur Piazza d’Ungheria zu fahren, um dieses teuere, hauchdünne Teegebäck zu besorgen. In einer herkömmlichen römischen Bäckerei bekommt sie das sicher nicht.
Ich beobachte sie, wie sie am Herd steht, vorsichtig das heiße Wasser in die Teekanne laufen lässt, es leicht in der Kanne schwenkt um sie anzuwärmen, das Wasser wieder abgießt, Teeblätter einfüllt – ich weiß nicht, ob sie auch den Tee in einem Feinkostgeschäft holt -, wieder abgekochtes Wasser auffüllt. Sie lächelt ein wenig, leckt sich mit der Zungenspitze über die Lippen, was sie oft tut, wenn sie sich konzentriert, und fächelt mit der Hand den aufsteigenden Wasserdampf weg. Ein schwacher Duft nach würzigem Tee erfüllt die kleine Küche. Ob dieser Geruch sie an ihre Kindheit erinnert?
Sie streift die Sandale vom rechten Fuß und massiert sich damit die linke Wade. Der blaue Rock aus leichtem Wollstoff fällt so weit über ihre Beine, dass man die verdickten Adern nicht sieht, aber ich weiß, sie hat Krampfadern, die ihr wieder Schmerzen bereiten. Ich drehe den Kopf, damit sie nicht merkt, dass ich sie beobachte. Der alte, schlohweiße Tom steht im Flur vor dem Spiegel und kämmt sich mit einem winzigen Kamm seinen weißen Schnurbart, auf den er so stolz ist. Sie ruft „Ich habe Tee aufgebrüht“. Ich stehe auf und werfe noch einen Blick zurück zur Anrichte, wo die kleine Espressokanne steht.
Liebe Frau Fernekeß,
ihr Aufenthalt in Rom erweist sich als äußerst ergiebige literarische Inspirationsquelle. Wie wäre es, Sie würden ihn einmal im Zusammenhang beschreiben?
Das Porträt Ihrer Gastgeberin fällt farbig und detailreich aus. In den letzten Abschnitten schreiben Sie im Präsens, so sehr ver-gegenwärtigen sie die Szene.
Vielen Dank für diesen Text. Herzlich, Stefan Kappner
Zu Besuch bei Tante Käthe
Mein Freund und ich waren bei Tante Käthe eingeladen, der Schwester seiner Mutter. Sie war mir verschiedentlich schon bei Familienfesten begegnet. Eine freundliche, vornehme Frau. In der Familie galt sie als „etwas Besseres“. Mit ihrem Mann hat sie ein Geschäft geführt, in dem es vom Porzellan bis Spielzeug alles zu kaufen gab. Irgendwann lief der Laden nicht mehr gut, und sie mussten Konkurs anmelden. Ihr Mann war inzwischen verstorben, und sie lebte allein in einer Wohnung.
Die Einladung galt einem Mittagessen. Also machten wir uns schick, kauften Blumen und machten uns auf den Weg. Nach der Begrüßung lud sie uns ein, am Esstisch Platz zu nehmen. Mir trat sofort der Schweiß auf die Stirn: die ganze Konkursmasse stand auf dem Tisch.
Weiße Dammasttischdecke, weißes Porzellan mit Goldrand. An jedem Platz ein silberner Platzteller, darauf Teller auf Teller gesetzt. Schweres silbernes Besteck lag neben den Tellern. Für das Weinglas, edelstes Kristall, ebenfalls mit Goldrand, gab es einen silbernen Untersetzer, auf dem ein rotes Lederläppchen lag. Suppenterrine, diverse Schüsseln für Fleisch, Gemüse und Kartoffeln, alles strahlend weiß und mit Goldrand.
Ich kannte das nicht. Ich war Studentin, lebte in einem Ein-Zimmer Appartement und mein Geschirr stammte aus verschiedenen Quellen. Verschüchtert nahm ich Platz. Wozu brauchte man das alles?
Ich weiß nicht mehr, was es zu essen gab. Ich weiß nicht mehr über was wir gesprochen haben. Die Tante war freundlich. Mein Freund haben sich gut unterhalten. Aber ich war in Gedanken nur damit beschäftigt, nichts kaputt zu machen.
Eine besondere Herausforderung stellte dabei das Weinglas dar. Das Lederläppchen war etwas größer als der Untersetzer und lag deshalb leicht schief auf dem Rand. Nach jedem Schluck setzte ich das Glas vorsichtig ab, schob es eine Weile hin und her, nahm die zweite Hand zur Hilfe, damit das Glas ja nicht umkippte. Dann ließ ich das Glas vorsichtig los. Die Hände noch schützend in Reichweite. Geschafft.
Vielleicht musste ich auch nicht unbedingt den Wein trinken. Ich nahm etwas mehr Soße zu den Kartoffeln. So rutschte das Essen auch.
Ich habe das Essen überstanden, ohne die Konkursmasse in Scherben zu legen.
Liebe Anneliese,
ich kann die Beklemmung gut nachvollziehen, die den Genuss beim Essen (und darum sollte es doch gehen) unmöglich machte. Mein Lieblingssatz: “Die ganze Konkursmasse stand auf dem Tisch.” Denn im Kontrast (der “Juxtaposition”, wie es im Literaturdeutsch heißt) von Pracht und Konkurs steckt Spannung. Der ganze Stolz als letzter Stolz. Und gerade, weil “das alles” aus Ihrer Sicht so unnötig war, wollten Sie es auf keinen Fall kaputt machen. Wie jemand eine Geige viel vorsichtiger anfasst, der nicht weiß, wie sie gestimmt wird.