Erinnerungen und Fotografien haben viel gemeinsam. Oft erinnern wir uns an eine Art »Bild«, eine Momentaufnahme. Die mit der Zeit verblasst. Oder sich im Entwicklerbad unseres Gedächtnisses erst nach und nach zu dem ausformt, an das wir uns erinnern.
Die Dichterin und Webdesignerin Ricarda Kiel unterhält auf ihren inspirierenden Internetseiten www.ricardakiel.de die Rubrik »Nicht gemachte Bilder«. Dort finden sich literarischen Momentaufnahmen wie diese:
Ein Bild von zwei Menschen in einem parkenden Auto hinter der Windschutzscheibe. Sie legt eine Zahnbürste nach vorne auf die Ablage und er wischt sich eine Träne weg.
Ricarda Kiel: Nicht gemachte Bilder Nr. 19, www.ricardakiel.de/nicht-gemachte-bilder
Wir sind ständig von Fotografien umgeben. »Smartphones« ermöglichen uns, immer und überall zu fotografieren. Trotzdem gibt es viele entscheidende Momente in unserem Leben, von denen kein Foto existiert. Weil niemand wusste, wie sich das Leben danach entwickelte. Weil man Momente der Trauer oder Wut fast nie fotografiert. Weil kein Apparat vorhanden war oder man es schlicht vergaß.
Wie stellen wir uns diese Momente vor? Den Moment unserer Geburt? Den Moment einer Trennung (wie wir ihn im Beispiel erkennen können)? Den Augenblick einer Entscheidung oder einer so nie wieder erlebten Schönheit?
Schreibidee #59: Beschreiben Sie nicht gemachte Fotos aus Ihrem Leben.
Hinweis: Eine Möglichkeit besteht darin, die Situation zu beschreiben, in der kein Foto gemacht wurde. Interessanter (weil etwas geheimnisvoller) finde ich es jedoch, wenn Sie, wie im Beispiel von Ricarda Kiel, einfach beschrieben, was auf der Fotografie zu sehen wäre, wenn sie denn gemacht worden wäre.
7 Antworten zu “#59 — Nicht gemachte Fotos”
Nach dem Regen
Die kahle Birke verzweigt sich viel tausendfach in immer kleinere Äste, Ästchen und noch kleinere Zweiglein. Schwarzes Gewebe gegen den blauen Himmel, das sich sanft im Wind wiegt. Ein Regenschauer zieht vorüber – nur kurz – und der Baum ist übersprüht mit Myriaden von Regentropfen. Schon bald zeigt sich die Sonne wieder und die Tropfen funkeln. Sie glitzern und schimmern in der Sonne wie Diamanten. Der zarte Windhauch hält sie in Bewegung und erhöht den Zauber. Der ganze Baum – ein Juwel.
Sommerabend auf der Alten Liebe
Schön ist anders. Nein, ein schönes Schiff ist die Alte Liebe wirklich nicht. Eher ein sehr in die Jahre gekommener Kahn. Ramponiert und runderneuert. Nicht aufgemotzt, nur instand gesetzt. So dass das Flair der Vergangenheit, die sie schon auf dem Buckel hat und die vielen Runzeln, immer noch Ausstrahlung haben. So, dass du sicher bist, dass hier in irgendeiner Ecke der Klabautermann sitzt und nach dem Rechten sieht. Augenzwinkernd – auf seine Wei-se. Wenn er nicht gerade mit der Ufernixe plaudert. Auch das soll vorkommen.
Die Schiffstreppe – eine Zumutung. Bewundernswert, wie die Kellner da rauf und runter tanzen, meistens mit gut gefüllten Tellern und frisch gezapften Bieren. Auch wenn‘s schaukelt. Und das tut es von Zeit zu Zeit. Ganz sachte. Manche Wellenausläufer eines ewig langen Lastkahns oder eines Ausflugsdampfers schaffen es bis hierher.
Ein Sommerabend hier berührt das Herz. Wenn du oben am Heck sitzt und den Rundum-Blick hast. Wenn der Tag langsam zur Ruhe kommt und das Wasser mit ihm. Die Wellenma-cher, die meistens auch Krachmacher sind, verschwinden nach und nach und dann kommen die Leisen. Die Ruderer mit den kraftvoll-rhythmischen Bewegungen, oft sind es acht, die Ruderblätter perfekt synchron. Die Standup-Paddler, schwarz – im Gegenlicht nur die Kontu-ren erkennbar. Manche sind mutig, trauen sich quer rüber zum anderen Ufer mitten durch die sonnenflirrenden Wasser-Reflexionen. Und die Segler, die durch die Abendbrise gleiten. Entschleunigt. Sehnsuchtsvoll.
Rechts der Stößensee, gegenüber weiter hinten die Scharfe Lanke und links Schildhorn. Da-zwischen die Havel. Ziemlich breit ist sie hier, wieder in Freiheit, nachdem sie sich aus dem Kanal heraus gezwängt hat. Die Havel mit ihrem modrig riechenden Wasser. Die Ufer mit den tief hängenden Weidenzweigen, das Schilf mit den Verstecken der Wasservögel, die Badestrände.
Gedämpfte Verkehrsgeräusche erinnern daran, dass du hier doch nicht ganz aus der Welt gefallen bist. Auch die Leuchttürme signalisieren Zivilisation. Wenn die Dämmerung einsetzt, blinken sie grün und rot, rechts und links und zeigen der Schifffahrt den Weg in die Stadt.
Im Hochsommer lässt sich die Sonne viel Zeit, bis sie irgendwo hinter Staaken verschwindet und der Himmel hat es nicht eilig, von hell- nach mittelblau zu wechseln. Die Venus kommt trotzdem immer rechtzeitig.
Das alles sieht die Alte Liebe jeden Tag. Seit Jahrzehnten. Vielleicht glaubt sie, dass es immer so bleibt. Wenigstens so lange, wie der Klabautermann bei ihr ist.
Endlich wieder in Rom! Ich stehe an der Bushaltestelle vor der Chiesa Nuova am Brunnen, den sie „Suppenschüssel“ nennen, da er das Aussehen einer riesigen Suppenterrine hat. Auf der gegenüberliegenden Seite des Corso Vittorio Emanuele das gleiche Bild: Bushaltestelle, Menschen warten auf den Bus, der sie Richtung Piazza Venezia bringen soll. Dazwischen eine alte Frau. Sie hat eine Art Kittelschürze an und abgelaufene Hausschuhe, die Haare stehen ihr etwas wirr vom Kopf. Unruhig und mit kleinen Schritten schlängelt sie sich durch die Wartenden, vor sich hinmurmelnd, vielleicht kleine Schimpftiraden oder sinnlose Wörter, die nur sie versteht. Auf und ab, um die Anzeigentafel, dort rempelt sie an den Abfallkorb, ein paar Meter weiter, dann dreht sie um und schlürft den gleichen Weg zurück, zwischen den wartenden Menschen, auf und ab, immer wieder über die Schulter zurückblickend. Die Menschen um sie herum beachten sie nicht, viele eilen den breiten Bürgersteig entlang. Ein wunderschöner Tag, die Sonne scheint und vor allem die Touristen sind recht sommerlich gekleidet. Eine zierliche, asiatisch aussehende junge Frau im ärmellosen luftigen Kleidchen kreuzt den Weg der Alten, diese dreht sich blitzschnell um und gibt dem ahnungslosen Mädchen einen kräftigen Klaps auf den Po. Mit hoch erhobenem Kopf setzt sie ihre Wanderung – auf und ab – zwischen den wartenden Menschen fort. Die junge Frau wendet sich um und sucht, vollkommen überrascht von der Attacke, den Übeltäter. Wo ist er der „feurige Römer“?
Der Blick fällt durch ein Fenster in eine Bahnhofgaststätte. Quadratische Tische mit jeweils vier Stühlen füllen den Raum. Auf den Tischen ein Aschenbecher und ein Gewürzständer: Salz, Pfeffer, Maggiflasche. An einem Tisch sitzt ein Mann. Kurze, braune Haare, akkurater Scheitel, dunkler Anzug. Vor ihm eine Tasse. Ihm gegenüber steht ein Mädchen, sieben, höchstens acht Jahre alt. Dunkler Rock, helle Bluse, weiße Söckchen, Halbschuhe. Das rechte Bein ist angewinkelt, die rechte Hand umfasst den Knöchel. Die linke Hand greift in die Luft. Der Mann richtet seine Augen auf die Uhr am Handgelenk.
Liebe Anneliese,
hier wurde nicht nur nicht fotografiert, sondern nicht einmal hingesehen. Die Fotografie ersetzt nicht die (verblassende) Erinnerung, sondern den fehlenden Blick. Spannend finde ich auch den Kontrast zwischen der Theater-Geste des Mädchens und der Maggiflaschen-Umgebung. Wie eine Schwarzweißfotografie à la Robert Doisneau. Dankeschön!
Lieber Hansjörg,
vielen Dank für diesen sehr anschaulich geschriebenen Text, der dem Thema “nicht gemachte Fotos” eine überraschende Wendung gibt. Sicherlich brauchen Sie auch kein Foto, um sich an diesen Anblick zu erinnern.
Herzlich, Stefan
Sommer 2001 in Ladakh. Wir fuhren mit einem Sammeltaxi von Leh ins Nubravalley. Dabei mussten wir den mit 5.600 Metern hohen Paß, den NamikaLa, überschreiten.
Der Weg schlängelte sich hinauf, und der Blick in den Abgrund verursachte schon ein mulmiges Gefühl. Bald mussten wir anhalten, denn Straßenarbeiter aus Südindien reparierten den vom langen Winter arg ramponierten Fahrweg, wobei sie schutzlos den giftigen Teerdämpfen ausgesetzt waren. Nach weiteren vier fünf Kurven ein weiterer Stau, die drei Autos vor uns verlassen, alles ging zu Fuß dreißig Meter weiter. Der Taxifahrer stieg ebenfalls aus und schlug uns vor, mitzukommen. Wir gingen an die Stelle, wo am Vortag ein Linienbus von der Straße abkam und drei Menschen starben. Der Bus stürzte glücklicherweise nicht den steilen Berg runter, sondern blieb auf wunderbarer Weise zehn fünfzehn Meter unterhalb auf einer Seite liegen; gestorben waren die drei Mitfahrer auf dem Dach, die weit in die Tiefe geschleudert wurden.
Nein, es standen keine Gaffer am Wegesrand, Einheimische und Touristen standen in andächtiger und trauender Haltung da und gedachten der toten Fahrgäste, und der vielen anderen Fahrgäste, die glücklich aus dem überfüllten Bus mit dem Leben davon gekommen waren.
Niemand der Touristen zückte den Photoapparat, sondern ließ sich wohl von dieser Stelle berühren, wo Unglück und Glück sich so nahe standen.
Und das war gut so.