In der Konsumgesellschaft (an deren Ende wir wahrscheinlich angekommen sind) erleben wir einen ständigen Strom von Dingen, die wir Waren nennen. Wenn viel gekauft wird, bedeutet das positive Wirtschaftsnachrichten. Und etliche noch brauchbare Dinge wandern in den Müll. Einige Gegenstände begleiten uns dennoch über längere Zeit, sind zu Vertrauten unseres Alltags geworden — und haben erst ausgedient, wenn sie ihren »Dienst« tatsächlich nicht mehr ausüben können.
Bei mir sind Hausschuhe und Schlafanzüge solche Gegenstände. Ich tausche sie erst aus, wenn sie sich schon beinahe aufgelöst haben. Dann ist wieder viel Zeit vergangen, eine Hausschuh- oder Schlafanzug-Ära geht zu Ende.
Als ich diese Hausschuhe geschenkt bekam, musste ich mich erst mit ihnen anfreunden. Eine traditionellere Form wäre mir lieber gewesen. Doch sie wärmten sehr gut, und je öfter ich sie unter einem Sofa oder im Treppenhaus suchte, desto besser gefielen sie mir. Sie aus geschmäcklerischen Gründen auszutauschen, wäre ohnehin nicht in Frage gekommen. Das ist jetzt wohl sechs oder sieben Jahre her. In diesen Hausschuhen konnte ich meine Tochter abends noch ins Bett tragen. Das würde heute zugleich an meinem Rücken und ihrem Protest scheitern.
Das Haus meiner Eltern ist voll von solchen Sachen. Das Brotmesser, mit dem ich mich schon als Kind nicht schneiden sollte. Der unausgetauschte Apotheken-Kalender hinter der Tür. Die Personenwaage im Badschrank. Der Stiftehalter aus Plastikschnüren um ein metallenes Gestell. Wann werden sie ausgedient haben?
Indem wir diese Dinge und ihren Wert würdigen (der nichts mit Euro oder Dollar zu tun haben muss), üben wir einen liebevollen Blick auf unseren Alltag ein. Und tragen vielleicht etwas dazu bei, dass wir oder unsere Nachkommen einen Ausgang aus der Konsumgesellschaft finden.
Schreibidee #60: Schreiben Sie einen Nachruf auf einen alten Gegenstand, der nun ausgedient hat.
2 Antworten zu “#60 — Ausgedient”
„NOT QUIET YET“
Nach sechs Monaten Sommer sehen wir uns wieder.
Du gehoerst zu meiner Ankunft in Deutschland, wie der Jetlag nach 22 Stunden im Transit,
die ueberschaeumende Freude meiner Mutter, die erste Scheibe Schwarzbrot und kalte Fuesse.
Ein halbes Jahr hast du geduldig auf mich gewartet und dich nicht vom Fleck geruehrt. So, wie ich dich am letzten truebseligen Novembertag behutsam und mit nostalgischer Dankbarkeit in die Gemeinschaft sehr viel juengerer, neuerer und unerfahrenerer Exemplare verabschiedet hatte, finde ich dich wieder.
Vorsichtig ziehe ich dich aus deiner Umgebung und druecke dich behutsam an mich.
Du fuehlst dich noch so an, wie bei unserem letzten gemeinsamen Spaziergang durch nasskalte Nebelschwaden – weich, warm und wohlig anschmiegsam.
Wir breiten unsere Arme aus und schauen uns an. Unsere Anziehungskraft beginnt zu knistern und wir sind uns einig:
NOT QUITE YET! Wir werden auch diese Saison eng miteinander verbringen.
ONE MORE TIME! JUST ONE MORE SEASON TOGETHER!
Egal was die Leute sagen. Fuer mich bist Du nicht abgenutzt, verbraucht, ausgeleiert, verblasst und verschlissen.
Werden wir nicht alle alt?
Verlieren wir nicht alle an Spannkraft, Form und Farbe?
Du hast sogar das Glueck, nicht aus den Naehten zu platzen, denn du bist ein handgemachtes Meisterstueck aus Maschen reinster Wolle.
An deiner Echtheit habe ich nie gezweifelt und erst recht nicht an deiner Zuverlaessigkeit.
Und wenn schraege Blicke uns treffen und Koepfe sich schuetteln beim Anblick unseres Wolle-Garn-und Fadenzaubers , der unmoeglich Waerme spenden kann, dann sind das die Blicke und die Koepfe, die nie erfahren haben, wie sich wahre Liebe anfuehlt.
Sie sehen nicht, wie sehr du deine Arme fuer mich gestreckt und gedehnt hast, damit sie bis zu meinen Fingerspitzen reichen um mir die Haende zu waermen.
Sie sehen nicht, wie du deinen Hals fuer mich gereckt und gerollt hast, damit mir meine Stimme nicht verloren geht.
Sie sehen nicht, wie lange du mir Ellbogenkraft geschenkt hast, um mich durchzuboxen.
Natuerlich entstehen dabei Beulen und offene Wunden. Ich schaetze die linken so sehr wie die rechten zutiefst. Sie sind wie eine Kompassnadel, die mir Osten und Westen anzeigt.
Wenn ich sie hautnah an mir spuere, weiss ich, wir beide ruhen in unserer Mitte: Du auf meiner Brust und ich in deinem Bauch.
Wie lange tragen wir uns schon so?
So lange, wie ich deine Maschen zaehlen kann.
Das allerdings, faellt mir nicht mehr so leicht, wie am Anfang unserer Freundschaft. Immer wenn wir ein halbes Jahr miteinander erlebt haben, bist du erneut gewachsen.
Eigentlich wunderbar – wie viele alternde Wesen sind dazu bereit?
Wie ueber Nacht, scheinst du neue Maschen zu knuepfen, wie ich es mir fuer mein Zellwachstum wuenschte und am Tag meines Abflugs strahlst du fuer mich in einer Groesse, die mir zeigt, dass auch du nicht ein Leben lang das bleiben willst, wozu man dich gestrickt hat.
Oh, wie ich dich mag, mein alter, einmaliger, mein bester Schafswollrolli.
Fuer mich hast du noch lange nicht ausgedient, bist nicht verbraucht und nicht verschlissen. NOT QUITE YET!
Du und ich, wir werden uns tragen bis der letzte Faden in unser beider Leben seine Geschichte erzaehlt hat.
Und dann? …
Wer weiss, vielleicht besitzt du ja ein naechstes Leben.
Du wuerdest mir meine Fuesse ganz wunderbar waermen.
(Grenada, Dec. 31st 2019)
Ausgedient?
Wie wunderbar, die Adventszeit nahte mit großen Schritten und ich mache es kurz: Ich liebe die Adventszeit! Am Freitag würden wir das Klassenzimmer verzaubern. Dafür trugen die Erstklässlerchen meiner neuen Klasse schon die ganze Woche immergrüne Zweige in die Schule. Bis Freitag wollten wir so einen Berg gesammelt haben, um einen sooo großen Adventskranz zu binden, einen Kranz, in dem von jedem von uns ein, zwei Zweige drin verflochten sein würden. Bei jedem „sooo“ zeigte ich mit den Armen eine Größe, die die Kinder sich für einen Adventskranz nicht vorstellen konnten. Täglich malte ich mit ausholenden Armbewegungen einen Kreis in die Luft, der so groß war wie ein Vierer-Gruppentisch und zeigte auf den Berg gesammelter Zweige und auf die Höhe, die ich mir vorstellte, dass er bitte, bitte noch anwachsen würde. Die Motivation der Kleinen wuchs von Tag zu Tag. Morgens begrüßten sie mich schon von Weitem mit einem lauten “Guck mal, Frau Dingsbums, wie viele Zweige wir jetzt haben. Soooo lange und so viele!“ Sie strahlten mich an und am Freitag strahlte ich zurück. Mein Herz hüpfte: Die Menge Zweige sollte reichen, dass der Kranz größenmäßig an die der vergangenen Schuljahre ranreichen würde. Die Kinder bekamen Aufgaben, mit denen sie sich weitgehend selbst beschäftigen konnten. Drei von ihnen halfen mir, die Zweige in klein, mittel und groß zu unterteilen und schließlich mit den größten Zweigen das Grundgerüst eines Kranzes zu legen. Ich wickelte, band, drückte, zerrte, zog, schnitt ab, wickelte weiter, sortierte die hübschen Zweige nach oben, die schon etwas unansehnlicheren nach unten, band, steckte, wickelte, befestigte und …tatataaa…hatte nach einer knappen Stunde ein passables Ergebnis. Wir fegten den Tisch, den Boden darunter, hoben den schweren Kranz hoch, schoben die glänzende Tischdecke darunter, ich packte die dicken, roten Kerzen aus, die Kinder trugen den gebastelten Adventskalender in die Mitte und alle waren froh: Helene entdeckte in all dem Grün ihren eigenen Zweig, Pia staunte über die Befestigung der Kerzen, Mehdi erkannte, dass der Kranz ja fast wie ein Weihnachtsbaum so groß sei, Tiam ahnte, dass keine andere Klasse sooo einen Kranz hätte, und so freuten sich alle, bis … ja, bis Timo nüchtern meinte: „Ist ja schön, aber ein bisschen kahl ist der schon. Soll ich mal Mama fragen, ob ich Sterne oder so was mitbringen darf?“ – Da hatte er aber nicht mit mir gerechnet. „Warte“, flüsterte ich geheimnisvoll, „Wir sind ja noch nicht fertig!“ und holte die große verbeulte Plätzchendose aus dem Schrank, die dort über 11 Monate auf diesen Moment gewartet hatte. „Ich habe Deko hier!“, sagte ich und lud alle Kinder ein, sich etwas auszusuchen, um den Kranz zu schmücken. Sie grabbelten in die Dose und suchten mit leuchtenden Augen die beste Stelle am Kranz aus für genau dieses Äpfelchen, Sternchen oder das Engelchen ohne Flügel. „Frau Dingsbums, wo sind seine Flügel?“ Oh, die Flügel, die hatte es in all den Jahren irgendwann einmal verloren. „Mein Engel hat kaum noch Haare, die platzen da so ab“, rief Helene und streckte mir eine kleine Holzfigur mit Halbglatze entgegen. Ich erklärte ihr, dass das Engelchen (wie die anderen auch) schon über 40 Jahre alt ist. Ein langgezogenes „Viiiierziiiig?“ tönte durch die Klasse. Ja, sagte ich, mindestens. Die Engel und die Äpfelchen sind alle noch aus der Zeit, als ich ein kleines Kind war. Schon als ich ganz klein war, hingen sie zu Hause an unserem Adventskranz oder an unserem Weihnachtsbaum. Und dann staunte ich selbst, dass ich sicher sagen konnte, welche Engelchen älter als die anderen waren, welche Äpfel nur am Kranz, aber niemals am Baum Platz gefunden hatten oder an welchem Weihnachtsgeschenk wann welcher Anhänger eine Verzierung war. Immer mehr Kinder streckten mir ihre ausgesuchte Deko entgegen und wollten die passende keine Geschichte zu ihr hören. „… von meinem Bruder..:“ „Am Geschenk von meiner Oma…“ „Den gab es auch noch in blau…“ „… mochte ich am liebsten, weil er so lächelt…“ Und wieder unterbrach uns alle Timo: „Warum sind die Sachen jetzt alle hier in der Schule und nicht mehr bei dir zu Hause?“ Und so endet meine Geschichte heute mit einer (Not-)Lüge, denn ich antwortete Timo: „Weil sie bei Kindern sein wollen, die sie gern haben, obwohl sie schon eine Glatze haben oder ihre Flügel verloren“ und nicht wahrheitsgemäß: „Weil für Grundschullehrerinnen die Schule der Ort für ausgediente Dinge ist.“