Wie alles in der Sprache wandelt sich auch der Gebrauch von »Sie« und »Du«. Die amerikanische Lebensart hat einen Einfluss, auch das Ideal der Jugendlichkeit. Und neben allem gesellschaftlichen Wandel hat auch jeder seine persönlichen Erlebnisse und Gefühle, was die Anrede betrifft.
Ein »Du« kann Nähe und Freundschaftlichkeit ausdrücken, das »Sie« distanziert und kühl erscheinen. Doch manchmal wirḱt das »Du« auch erzwungen, distanzlos — als Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse. Eine Anrede kann falsch und unangenehm klingen, oder das Eis brechen und die Verhältnisse klären. Und in jeder Gruppe, jeder Arbeitsstelle hilft es, über die entsprechenden Regeln Bescheid zu wissen — Kleiderregeln der Höflichkeit.
In einer psychologischen Fortbildung auf dem »Sie« zu bestehen, ist als ob man mit Badehose in einer deutschen Sauna sitzt. Die Höflichkeitsform gilt hier als unhöflich.
Wer kennt Sonderformen, etwa die alte/dialektgebundene Anrede in der zweiten Person Plural — »Ihr« –, die ich als Kind in der Pfalz noch häufig gehört habe. Oder das sogenannte »Hamburger Sie«? Wie lange darf das Duzen einseitig bleiben, etwa wenn ein/e Auszubildene/r in einer Firma geduzt wird, er/sie selbst den Chef oder die Chefin aber siezt?
Wie fühlten Sie sich, als Sie als Jugendliche/r zum ersten Mal gesiezt wurden? Erinnern Sie sich an Situationen, in denen Sie ein »Du« unangemessen fanden? Werden Sie in Geschäften gerne geduzt? Möchten Sie hier — auf biografika — lieber geduzt werden? Gibt es jemanden, den Sie gut kennen und doch noch immer siezen?
Schreibidee #62: Schreiben Sie eine Sie-oder-Du-?-Geschichte.
4 Antworten zu “#62 — Du-Sie-Du”
DU-SIE-DU – Geschichte.
SINE-Ausrüstung und Bekleidung für Rucksackreisende. Ich kaufe bei SINE seit Jahren ein. Anoraks, Wanderhosen, T-Shirts, Blusen, Socken …
Nicht nur zum Wandern und nicht nur für den Rucksack.
Ich habe eine Kundenkarte, die vergünstigte Einkäufe ermöglicht.
Auch bekomme ich immer mal wieder Post mit dem Hinweis auf verschiedene Verkaufsaktionen.
Eines Tages erhalte ich einen weiteren Werbebrief mit der Anrede:
„Liebe Maria,
wir bieten dir heute für die Dauer von …“
War ich nicht bislang die „liebe Frau Adler“ oder sogar die „sehr geehrte Frau Adler“?
Die lLiebe Maria“ war ich mit Sicherheit nicht!
Mein Blutdruck steigt.
Ich besuche das Geschäft und nehme den Werbebrief mit.
Der Verkäufer erklärt mir, die Du-Anrede würde sich daraus ergeben, dass ab 1000 Höhenmetern Wanderer per Du miteinander sind.
Ich schaue mich um. Mainz. Altstadt. 1000 Höhenmeter?
Ich selbst bin beim Wandern zu 98% in Mittelgebirgen unter 1000 Höhenmetern unterwegs.
Eine weitere Verständigung erweist sich als sehr schwierig bis unmöglich. Ich lasse mich aus der KundInnendatei löschen. „Wollen Sie (!) wirklich auf alle Vergünstigungen und Sonderpreise verzichten?“
Ich will mit Frau Adler angeschrieben werden.
Ich, Du – oder auch anders?
Zu Anfang ein Kalauer: you can say you to me: glückliche englische Sprache, die die feinen und doch so bedeutsamen Fallstricke des Deutschen nicht kennt – und im übrigen auch mit einem einfachen the auskommt, wo deutsche Artikel und ihre Endungen den Lernenden das Leben oft zur Hölle machen.
Sprache ist so viel mehr als sprechen, Sprache ist ein Soziotop, sie bildet Hierarchien ab. Du oder Sie ist oben oder unten. Wer duzt wen, zu wem sagt man Sie, wer bietet wem das Du an. Da werden Schranken niedergelegt. Aber: ein alkoholgetriebenes Du vom Betriebsausflug oder von der Weihnachtsfeier wird den Abend oft nicht überleben.
Vorgesetzte siezen ihre Untergebenen, umgekehrt werden sie natürlich auch gesiezt. Kinder, wenn sie noch klein sind, duzen Erwachsene, mit steigendem Alter lernen sie das Sie – sie entwickeln ein Bewußtsein von vertraut und fremd, von Nähe und Distanz.
Lehrer in der Schule fingen mit dem Hamburger Sie – Vorname + Sie – an, als wir 16 waren: Zeichen des Respekts.
Du? Die Familie duzt sich, wenn sie nicht eine traditionelle französische Familie ist, in der die Eheleute den Respekt (und die Fremdheit) auf die Spitze treiben und sich siezen: Vouz.
Du? Kollegen duzen sich, Gewerkschafter duzen sich, Genossen duzen sich: Ausdruck gleicher Interessen, sogar althergebracht von Solidarität.
Du? Sie? Ich bin ne kölsche Jung – und im Honoratioren-Kölsch heißt es Ihr: Hat Ihr dat jedonn? (Haben Sie das getan?) Tertium semper datur – es gibt eben immer ein Drittes.
Lieber Herr Hecker,
schön, hier von Ihnen zu lesen. Mehr davon!
Das “Ihr” gefällt mir auch gut, doch ich fürchte, selbst in Köln hört man es inzwischen nicht mehr allzu oft.
Eigentlich ist es mir ziemlich egal, ob Du oder Sie. Eigentlich?
In meiner Kindheit galt: Kinder werden geduzt, Erwachsene werden mit Sie angeredet. Außer den nahen Verwandten. Onkel und Tanten wurden geduzt. So war es zunächst auch in der Schule.
Als ich mit meiner Ausbildung begann, lebte ich in einer Zwischenzeit. In der Berufsschule wurde ich mit dem Vornamen angesprochen, dann aber gesiezt. Lehrer*innen und Ausbilder*innen wurden weiterhin gesiezt. Von Mitschüler*innen anderer Klassen erfuhr ich, dass es in den Büros anders war. Da sprach man sich mit dem Familiennamen an und wurde geduzt: Frau Müller, kannst Du mal …
Ich selbst neige dazu, Menschen, die ich neu kennenlerne, erst einmal zu siezen. Und auch bei der Arbeit habe ich Kollegen*innen zunächst gesiezt. Mit manchen ging ich im Laufe der Zeit zum Du über, aber längst nicht mit allen. Es gab und gibt aber auch Menschen, mit denen ich über viele Jahre beim Sie geblieben bin. Irgendwie ergibt sich das Du nicht, und es ist auch nicht schlimm. Das sagt nichts über die Qualität unserer Beziehung aus.
In Seminaren und Kursen, vor allem wenn sie über ein Wochenende gingen, kam spätestens nach der Vorstellung die Frage nach dem Du oder Sie auf. Ich denke, viele fühlen sich verunsichert, wenn sich einige duzen und andere nicht, fühlen sich dann ausgeschlossen. Das Du schafft eine (scheinbar) gleichwertige Gemeinschaft.
Einmal hatte ich in einem Kurs, der über mehrere Wochenenden ging, eine Teilnehmerin, die auf dem Sie für sich bestand, obwohl alle anderen sich duzten. Das war sehr eindrücklich. Alle akzeptierten es, und es gab kein Problem. Also nur Mut. Jede*r soll zu dem stehen, was ihr/ihm richtig erscheint.
In den achtziger Jahren, in unseren vielen frauenbewegten Gesprächen, war das Du obligatorisch. Ich erinnere mich noch genau, dass ich in einer Diskussion eine ältere Frau siezte, schließlich war ich wohlerzogen. Diese regierte darauf: Wir werden doch unter uns Frauen nicht zusätzliche Hierarchien aufbauen. Ich bin die Gerda.
Und tatsächlich haben Du und Sie auch viel mit Hierarchie, mit oben und unten zu tun. Wer bietet wem das Du an.
Ein langjähriger Chef von mir bot mir und anderen Kollegen*innen auf dem letzten Betriebsausflug bevor er in Rente ging, das Du an. Über zwei Jahrzehnte waren wir beim Sie. Vielleicht wollte er uns damit sagen, dass die Arbeitsbeziehung zu Ende ist und eine neue Zeit beginnt, eine neue Form des In-Beziehungs-Bleibens möglich ist. Die alte Hierarchie war zu Ende. Wir alle nahmen das Du an. Eine meiner Kolleginnen kehrte nach dem Betriebsausflug zum Sie zurück und blieb konsequent dabei, weil für sie das Du nicht stimmig war. Ich selbst stolperte in der darauf folgenden Zeit auf Du-Sie- und Sie-Du-Wegen durch unsere Begegnungen. Ihm ging es im Übrigen genauso. Darüber gesprochen haben wir aber beide nicht.
Mir fällt auf, dass in Zeiten des Internets, das Du auf dem Vormarsch ist. Im Netz ist das Du allgegenwärtig, und so schleicht sich auch in meine E-Mail-Kontakte immer wieder mal ein Du in eine Mail an „Sie“ ein. Oder ich schreibe eine Mail an „Sie“ und unterschreibe nur mit meinem Vornamen.
Während ich schreibe, fällt mir auf, was für ein weites Feld dieses Thema ist. Und wie finde ich nun ein Ende? Vielleicht damit, das es mir eigentlich nicht wichtig ist, ob Du oder Sie. Bin ich in einer Gruppe, die sich duzt, übernehme ich das Du. Ansonsten beginne ich mit Sie und arbeite mich langsam vor.
Ingeborg