In »Pawels Briefe« schildert Monika Maron, wie ihre Mutter einen Karton mit Briefen findet, an die sie sich nicht mehr erinnern kann. Es sind Briefe von Marons Großvater Pawel Iglarz, der Anfang des 20. Jahrhunderts von Lodz nach Berin übergesiedelt war, dort als Schneider arbeitete und 1942 von den Nazis ermordet wurde.
Die Briefe ermöglichen ihr einen vom Blick und den Erinnerungen der Mutter unabhängigeren Blick. Auf das Leben ihres Großvaters, ihrer Familie und letztlich auch auf ihr eigenes Leben. Auf das Rätsel der Herkunft.
Wer wüsste nicht gerne mehr von seinen Ahnen? Wer würde Briefe oder Tagebücher von Groß- und Urgroßeltern ungelesen lassen? Egal, ob man eine lückenlose Familiengeschichte (Winzerfamilie, 10 Generationen) vermutet, oder Geheimnissen auf der Spur ist.
Stellen Sie sich vor, Sie seien unterwegs auf einem Dachboden und stießen auf eine Kiste, einen Karton oder Koffer eines (Ur-)Großvaters, einer (Ur-)Großmutter oder eines anderen Vorfahren. Was würden Sie gerne darin finden?
Schreibidee #63: Schreiben Sie eine (Wunsch-)Geschichte über einen ersehnten Dachbodenfund.
Literaturhinweis
Monika Maron: Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte
Fischer Taschenbuch Verlag
ISBN 978-3-596-14940-7
3 Antworten zu “#63 — Eine Kiste auf dem Dachboden”
Nein, wir hatten keinen Dachboden. Wir hatten nur einen Keller. Wir wohnten im Hinterhaus. Um in den Keller zu kommen, musste man den Hof überqueren und am Rückeingang des Vorderhauses die Treppe hinuntergehen. Da über diesem Keller eine Bäckerei untergebracht war, hörten wir immer Geschichten von Ratten, die im Keller lebten, und dass sie Menschen ansprangen und bissen. Was in unserem Keller abgestellt war, ich weiß es nicht. Ich habe diesen Keller nie betreten.
In meiner Phantasie ist der Dachboden immer ein aufgeräumter Raum. Licht fällt durch ein kleines Fenster. In den Ecken spinnt die eine oder andere Spinne ihr Netz. Es sind alles nur kleine, freundliche Spinnen. Nichts zum Fürchten.
Abgestellt sind in dem Raum ein Schrank und eine Kommode, vielleicht ein alter Stuhl und ein Sessel. Zu gut, um sie wegzugeben, zu groß und zu schwer, als dass sie noch in die Wohnung passten. Sie sind leergeräumt. Die alten Angeln ächzen, wenn man durch den Raum geht. Viele Jahre stehen sie nun schon hier. Niemand kommt vorbei und bewundert sie. Keiner streicht mit der Hand über die Türen, bewundert die Maserung und die Lackierung. Niemand setzt sich in Stuhl oder Sessel, um ein wenig nachzudenken in der Stille. Nur ein paar Mäuse freuen sich, dass es sie gibt.
Über allem schläft eine dünne Schicht Staub.
In den Türen des Kleiderschranks hängen die Erinnerungen an das Leben der Menschen. Die Kleider, Röcke, Hosen, Jackets, in die sie sich kleideten. Und die Schubladen der Kommode erinnern sich an die Zartheit der Wäsche, den leichten Duft von Parfüm und den Flausch der Pullover und Schals, die in ihnen gelegen haben.
Ich betrete den Dachboden. Vorsichtig und langsam setzte ich meine Schritte, um den Staub nicht aufzuwecken, nehme Platz in dem Sessel. Ich brauche etwas Geduld. Aber dann höre ich ihre Geschichten. Mein Zuhören holt sie für eine kurze Zeit aus ihrer Funktionslosigkeit. Und sie danken es mir. „Schau in die Ecke hinten. Da wirst du etwas finden.“ Ich schaue nach. Und da steht einer der großen Vogelkäfige, die an den Wänden unserer Wohnung hingen. Mein Vater züchtete eine Zeit lang Sittiche. Abends saßen wir am Tisch und zogen aus Stoffmustern die Fäden, damit die Vögel ihre Nester bauen konnten. Ich hebe den Käfig hoch. An seinen Gitterstäben haftet noch die Zärtlichkeit, mit denen mein Vater diese kleinen Tiere in den Händen hielt.
Ich liebte die Dachkammer, dieses Museum gefűllt mit alten Möbeln, Heiligenbildern, meine hölzerne Gehschule, einige Gegenstände, fűr deren Nutzung ich eine Gebrauchsanweisung benötigt hätte. Doch mein besondere Augenmerk gewann ich auf den Inhalt der űberquellenden Schubladen: Fotoalben, Heiligenbűcher, Gesundheitsbűcher, und eine Menge Dokumente, zum Teil noch in gotischer Schrift, ein Grund, mir von der Mutter das Lesen dieser Schrift zeigen zu lassen.
Leider kannte ich meine Großeltern nur von diesen Bildern und von gelegentlichen bruchstűckhaften Erzählungen, waren sie ja schon lange vor meiner Geburt begraben worden.
Heute bin ich wieder hinauf in den Raum und setze mich in den alten weichen Sessel.
Und mein Blick wandert durch den Raum. Und da sehe ich in einer Ecke ein Kästchen, das ich bisher noch nie wahrgenommen hatte. Ach ja, es wurde viel “Plunder” entsorgt, und vielleicht lag es unter den vielen Dingen, die hier gestapelt waren und warteten, einer unwahrscheinlichen zukünftigen Nutzung zugeführt zu werden. Ich nehme das Kåstchen in die Hand, öffne es und finde viele Heftchen und andere Schriftstücke vor: da sind die Tagebuchaufzeichnungen meiner Oma vaterseits, in einer zarten, gut leserlichen gotischen Schrift; sie starten mit dem Tag, an dem sie mit vierzehn Jahren ausgeschult war und im Haushalt und in den Feldern mitarbeiten musste, beschreiben das Kennenlernen ihres Mannes, das Aufziehen ihrer sechs Kinder, die harten Jahre des ersten Weltkrieges … Und dann liegen hier auch die Briefe des Großvaters von der Dolomitenfront im ersten Weltkrieg, und noch vieles mehr, was ein ziemlich klares Bild ihres Lebens gibt. Und schau, auch meine Mutter hatte Aufzeichnungen gemacht und sie irgendwann in dieses Kästchen gelegt. Und so lese ich und lese ich und draußen wird es schon dunkel, und ich entscheide, alle Schriftstücke wieder ins Kästchen zurūckzulegen, das Kästchen selbst wieder an seinen Platz zu stellen und morgen wieder zu kommen, um die Lektüre fortzusetzen.
Wie ich mich vom Sessel erheben will, wache ich auf … es war leider nur ein Traum, vom Kästchen keine Spur. Und trotzdem, was ich im Traum erfahren habe, erweitert das Bild, das ich von meinen Vorfahren hatte.
Oh ja, diesen Traum habe ich auch. Wie schön wäre es, wenn es in jeder Familie so ein Kästchen gäbe!