In einem TED-Internetvortrag denkt der Psychologe Daniel Goleman darüber nach, warum wir Menschen nicht moralischer sind.
Er stellt fest, dass es im Gehirn keine direkte Verbindung gibt zwischen dem IQ und der Empathie eines Menschen, seinem Mit-fühlen mit anderen. Darum kann es hochintelligente Serienmörder geben. (Man denkt an die Romanfigur Hannibal Lecter, aber leider gibt es auch reale Beispiele.) Und darum nützt es nichts, Kinder nur intellektuell zu fördern.
Mitgefühl stellt sich ein, wenn man einem Mitmenschen genügend Aufmerksamkeit schenkt. (Ein Heiliger ist jemand, der die Fähigkeit und wahrscheinlich auch die Last hat, alle Menschen, die ihm begegnen in diesem Sinne zu sehen.)
Eine biografische Episode, die Goleman erzählt, unterstreicht diesen Zusammenhang. Für die New York Times arbeitete er an einer Story über Obdachlose, als folgendes geschah:
Eines Tages bald darauf – ein Freitag – gegen Abend, war ich auf dem Weg zur U-Bahn. Es war Feierabendverkehr und tausende von Leuten strömten die Stufen herunter. Plötzlich, während ich die Stufen hinuntergehe, bemerke ich einen Mann, der zusammengesackt war, ohne Hemd, ohne Bewegung, und die Leute stiegen einfach über ihn hinweg – hunderte von Leuten. Und weil mein städtischer Trancezustand irgendwie geschwächt war, hielt ich an, um herauszufinden, was vor sich ging. In diesem Moment formte ein halbes Dutzend anderer sofort einen Ring um diesen Typen. Und wir stellten fest, dass er aus Lateinamerika kam, kein Englisch sprach, kein Geld hatte und tagelang hungrig durch die Straßen gewandert war und vor Hunger ohnmächtig geworden war. Sofort holte jemand einen Orangensaft, jemand brachte einen Hot Dog, jemand holte einen Sicherheitsbeamten. Der Kerl war sofort wieder auf den Beinen. Dafür musste nur eine Person von ihm Notiz nehmen, also bin ich optimistisch.
Daniel Goleman
Schreibidee #70: Schreiben Sie davon, wie Sie Mitgefühl erlebten — und was es verändern kann.
2 Antworten zu “#70 — Mitgefühl”
Stilles Mitgefühl
Der große Raum ist sechseckig. Dämmeriges Licht fällt durch die Fenster. An den Wänden – in Stufen aufsteigend –Bänke für Chorsänger, die sich abends hier treffen. Platz für viele, umso stiller ist es jetzt. Ein Flügel steht in der Mitte, davor sitzt ein Kind.
In die Lautlosigkeit fallen Worte des Kindes, zögernd und leise zuerst, dann beherzter. Der Klavierlehrer sitzt daneben. Er hört. Hört zu, hört Seelennot, die ausgesprochen werden muss. Hört von dem Leben mit kriegstraumatisierten Erwachsenen, in deren Kopf der Krieg immer weiter geht. Von dem Leben, in dem das Kind keinen Platz zwischen elterlichen Fronten findet. Ein Kind, für das es nur diesen einzigen Anker gibt. Hier in diesem stillen, dämmerigen Raum. Einmal in der Woche.
Der Klavierlehrer fragt nicht und antwortet nicht. Er hört zu. Manchmal schüttelt er den Kopf. Das genügt zum Überleben.
Liebe Frau Tilse,
danke für diesen großartigen, anrührenden Text. Ich stelle ihn mir gesprochen vor, unterlegt mit ganz leiser und langsamer Klaviermusik.