Meine Lieblingsbuchhändlerin schenkte mir (zum 40. Jubiläum der Buchhandlung) das Bändchen »Geduld ist alles. Geschichten und Gedichte über das Warten« vom Diogenes-Verlag. Sie sagte: »Geduld können wir derzeit doch alle gebrauchen.« (Es wird ein langer Beinahe-Lockdown-Winter werden.)
Im Büchlein habe ich das gefunden:
Faszinierenderweise sind wir endlos geduldig, wo Geduld überhaupt nicht angebracht ist, aber nicht bereit, auch nur eine Woche zu warten, wo Langmut uns mit reichem Segen belohnen und überdies vor mancher Enttäuschung bewahren würde. Besitzen wollen wir alles immer sofort, aber wenn es um unsere wahre Zufriedenheit geht, glauben wir, alle Zeit der Welt zu haben. […] All das lässt auf eine Zukunft hoffen und damit warten, in der die Dinge in Balance stehen. Sie beginnt, wenn wir uns im Klaren darüber sind, worauf es sich zu warten lohnt, und tatsächlich warten. Und ansonsten keine Zeit verlieren.
Thomas Meyer: Von den verschiedenen Arten des Wartens
Können Sie Thomas Meyer zustimmen? Gibt es ein richtiges und ein falsches Warten? Bereuen Sie es, einmal auf jemanden oder etwas gewartet zu haben? Weil er/sie/es sich einstellte, oder weil gerade nicht?
Schreibidee #73: Wie war es, als Sie einmal gewartet haben?
4 Antworten zu “#73 — Warten”
Sehr gut die Sonntagssituation beschrieben! Bravo!
Rolf
Warten in meiner Kindheit, das war unauflöslich mit dem Sonntag verbunden. Gehörte ich, gehörten meine Geschwister dieses Mal zu den Glücklichen?
Wir lebten im Kinderdauerheim in K, meine Schwester, mein Bruder und ich. Beide waren sie jünger als ich.
Wenn der Sonntag kam, dann kam das Warten. Eigentlich fing es schon am Samstag an, aber da hatte es noch nicht so viel Kraft, das Warten. Es schlich sich jedoch schon hoffnungsvoll bang in die Gedanken. Ablenkungen wiesen es in seine Schranken, das Spielen, das Fernsehgucken, all die Aufgaben, die samstags zu erledigen waren. Aber Sonntag, Sonntag war Ruhetag und Sonntag war Besuchstag.
Schon mit dem Aufstehen begann das Warten. Das Warten und das Hoffen. Zwar konnte so früh noch kein Besuch kommen. Besuch kam zum Kaffeetrinken. Aber es kam auch schon mal vor, dass Kinder am Morgen abgeholt wurden. Ihre Eltern oder andere Verwandte machten einen Ausflug mit ihnen. Die hatten vielleicht Glück! Wir, meine Geschwister und ich, hatten dieses Glück nie. „Das musst du verstehen, dein Vater muss ja schließlich die ganze Zeit arbeiten“, war die Antwort der Erzieherinnen.
Nur nicht zu unbescheiden sein. Es ist ja schon schön, wenn die Eltern wenigstens ein paar Stunden kommen. Also wartete ich und nicht nur ich. Die Zeit ging quälend langsam vorbei. Die Sekunden und Minuten ließen sich unendlich viel Zeit auf ihrem Weg. Und mit dem Warten machten sich Hoffnung und Angst auf, besetzen mein Herz. Würde ich, würden wir heute Besuch bekommen? Ja, ganz sicher käme mein Vater. Er hat mich doch lieb! Ganz sicher würde meine Mutter jemanden finden, der sie nach K fährt, damit sie uns besuchen konnte. Ich versuchte zu spielen, aber alle meine Sinne waren darauf ausgerichtet, nicht zu verpassen, wenn es klingelte. Immer wieder sprang ich auf und schaute aus dem Fenster. Meine Füße rannten auf der Stelle vor Nervosität. Vielleicht sah ich ja meinen Besuch schon die Straße heraufkommen. Und dann könnte ich mich ja schon wirklich freuen, ohne Angst enttäuscht zu werden.
Nie kamen sie zusammen, mein Vater und meine Mutter. Sie hatten sich getrennt. Das war einer der Gründe, weshalb wir im Heim lebten. Mein Vater konnte uns nicht alleine erziehen. Er musste ja arbeiten. Ich weiß nicht, woher sie wussten, wann der jeweils andere kam, aber sie sind sich nie im Heim begegnet.
Ich war nervös an diesen Sonntagen und zappelig. Keine fünf Minuten konnte ich ruhig sitzen. Die Anspannung war zu groß. Mal war ich ganz sicher, dass sie kommen würden. Aber dann kam die Angst, ich könnte mich zu früh freuen, und so versuchte ich, die Hoffnung nicht zu groß werden zu lassen. Wer sich nicht zu früh freut, konnte nicht enttäuscht werden.
Besuch zu erwarten hieß hoffen: Hoffen, nicht vergessen zu sein. Jemanden zu haben, außerhalb des Heimes, der an einen denkt, für den man wichtig war. So wichtig, dass er oder sie sich am Sonntag aufmachte, um mich, um uns zu besuchen. Es bedeutet trotz Heimaufenthalts, eine Familie zu haben, oder wenigstens ein Teil von Familie zu sein, kein Waisenkind.
Aber es war ein banges Warten, und oft genug wartete ich,warteten wir vergebens.
Das Warten war belastet. Mich quälte nicht nur die Frage, ob ich Besuch bekommen würde. Mehr und mehr war die Frage wichtig, wie mein Besuch kam. Kam mein Vater allein oder brachte der Vater seine neue Frau mit. Er hatte nun eine neue Familie.
Wenn meine Mutter kam, beobachtete ich schon von weitem ihren Gang. War sie diesmal nüchtern? Oder musste ich mich wieder vor allem schämen, weil sie betrunken war? Ach, wäre sie doch besser nicht gekommen.
Ängste und Hoffen führten einen heftigen Kampf in mir. Konnte es sein, dass diesmal alles gut war?
Und zwischen Hoffen und Bangen gefangen, in dem eifrigen Bemühen, keines von beiden zu stark werden zu lassen, verstrich der Sonntag.
Wieder mal keinen Besuch bekommen. Aber nächste Woche, nächsten Sonntag, da besuchten sie mich bestimmt.
WARTEN
Wir warten. Unser ganzes Leben ist ein Warten.
Hast du schon einmal versucht zu leben ohne zu warten?
Nicht ganz so einfach, nicht wahr?
Wir warten darauf, dass es aufhoert zu regnen.
Wir warten auf den Anruf unseres Freundes.
Wir warten darauf, dass es endlich still wird,
Und darauf, dass jemand endlich etwas sagt.
Wir warten auf den Zug, den Bus, den Abflug und die Akunft.
Wir warten auf die Landung.
Wir warten darauf, dass es losgeht und darauf, dass endlich Schluss ist.
Wir warten auf die Diagnose, die Rechnung, ein Paket aus Uebersee.
Wir warten darauf einschlafen zu koennen.
Wir warten aufs Christkind und darauf, dass es endlich hell wird.
Wir warten auf eine Idee.
Wir warten darauf, dass die Gedanken endlich aufhoeren.
Wir warten auf den Brief des Geliebten, auf die Rente, den Urlaub,
Und die Gehaltserhoehung.
Wir warten an der Kasse, in der Schleife, auf Godot.
Wir warten auf das neue Jahr.
Wir warten auf Entlastung, Erloesung und darauf, dass wir angenommen werden.
Wir warten auf die Geburt.
Wir warten auf den Tod.
Wir warten auf Freiheit.
Wir warten auf Liebe.
Wir warten auf das, was kommt und warten bis wir an der Reihe sind.
Wir warten … ein Leben lang.
Worauf warten wir eigentlich? ………….. Dass das Leben endlich beginnt?
Wie saehe Leben aus, wenn wir nicht warten wuerden?
Waeren wir dann nicht mittendrin im Leben?
Kein Warten mehr, sondern sofort dort sein und das tun, worauf wir das ganze Leben lang gewartet haben. Nichts fuehlt sich lebendiger, nichts wacher an als dieser Zustand. Das Leben entfaltet sich mit jeder unserer Bewegungen.
Haende, Fuesse, Arme, Beine – unser ganzer Koerper lebt, vibriert, atmet, ist wach. Dafuer ist er hier. Hier fuer uns, um uns die Moeglichkeit zu geben, uns umzusehen und zu betrachten, wahrzunehmen und zu erfahren, was es bedeutet Mensch zu sein, Sinne zu besitzen und diese in direkter Anwendung zu erleben. Farben, Toene, Klaenge, Gerueche, Duefte, Geschmack, Beruehrungen und Empfindungen erreichen uns, ohne auf sie warten zu muessen. Sie sind einfach da, unmittelbar, in diesem Augenblick – nicht davor und nicht danach – sie sind JETZT : lebendig, echt und wahr! Warteten wir auf diese Augenblicke, wir wuerden sie verpassen. Verpassen, weil wir nicht gegenwaertig sind, nicht in der Gegenwart sind. Und wenn wir nicht in dieser sind, dann sind wir nirgendwo. Dann sind wir nicht im Leben.
Dann sind wir nicht!
Wir stecken fest im Warten, verlieren uns im Warten und spueren nicht, wie uns das Leben aus dem Blick geraet. Augenblick fuer Augenblick gleitet es uns aus den Haenden, die bereit waren zu beruehren und Leben zu spueren: Unser Leben!
Also gehen wir noch ein wenig auf und ab: Arme vor der Brust verschraenkt oder Haende in den Taschen und …
warten …
… warten, bis wir and der Reihe sind.
Ich stehe auf einem Weg am Waldesrand. Links ein Gebüsch. Davor eine Informationstafel. Rechts weite Felder, alle abgeerntet. Am Horizont dahinter Industriebauten, die weißen Rauch ausatmen. Starkstrommasten verbinden die entvölkerte Landschaft mit langen Leinen. Eine Landstraße führt nicht weit von meinem Standort entfernt vorbei, ab und zu von einem Auto genutzt. Auf der anderen Straßenseite ein einzelnes mehrstöckiges Haus.
Ich stehe hier und warte. Stehe auf fremder Erde, auf polnischem Boden. Der weiß-rote Grenzpfahl ist deutlich zu sehen.
Vier Tage lang mache ich hier mit eine Gruppe von Kollegen und Kolleginnen Wanderexerzitien im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen. GRENZEN ist natürlich das Thema dieser Tage in der Lausitz.
Ich stehe hier auf diesem kleinen Stück fremden Boden und warte.
Wegen einer Fußverletzung kann ich nicht die ganze Tagestour mitmachen. Deshalb hatten wir ausgemacht, dass ich zur festgesetzten Zeit an diese Stelle hinter der Grenze gefahren werde. Von hier aus wollten wir gemeinsam den zweiten Teil der Strecke laufen.
Ich stehe hier in meiner grauen Wanderhose und meiner leuchtend grünen Jacke. Auf dem Rücken mein Fotorucksack mit einer Flasche Wasser und einem Apfel. Es fängt an zu nieseln. Ich schaue auf die Uhr. Jetzt müssten die anderen jeden Moment kommen.
Ich gehe ein paar Schritte auf dem Weg auf und ab. Mein Blick fällt auf das mehrstöckige Haus. An den Fenstern sind keine Gardinen. Wohnt da überhaupt wer?
Ich stelle mir vor, hinter einem der Fenster stünde jemand, für mich unsichtbar, und sähe zu mir herüber. Was denkt er sich – ich denke an diese Person in männlicher Form –, was denkt er sich, was ich seit einer halben Stunde hier mache in meiner leuchtend grünen Jacke? Für eine Spionin bin ich zu auffällig. Außerdem habe ich auch kein Fernglas.
Der Regen wird stärker. Ich drücke mich eng an die Informationstafel. Sie hat ein kleines Dach, um die Informationen zu schützen. Für mich reicht das aber nicht auch noch.
Eine dreiviertel Stunde über der ausgemachten Zeit. Von meiner Gruppe keine Spur. Ich nehme mein Handy und rufe unsere Kontaktnummer an. Trotz Freizeichen nimmt niemand den Anruf an. Na ja, sie sind sicher gleich da.
Der Regen wird wieder schwächer. Ich setze mich auf einen feuchten Baumstumpf, hole meinen Apfel heraus und beiße hinein. Mein Blick schweift über die Felder.
Was, nur mal rein theoretisch gedacht, was wäre, wenn meine Gruppe gar nicht käme? Wenn sie sich unterwegs für einen anderen Weg entschieden und dabei vergessen hätte, dass ich hier auf sie wartete? Drehbuchautoren machen daraus ganze Filme. Und, mal weiter gedacht, so rein aus Interesse, was würde ich dann tun? Ich hatte keine Ahnung in welche Richtung ich gehen müsste, um wieder im Kloster Marienthal, unserer Unterkunft, anzukommen. Wäre das der Anfang eines wunderbaren Abenteuers?
Die Gruppe ist nun seit einer Stunde überfällig. Der Apfel ist gegessen. Ich stehe hier und warte. Ich versuche es erneut mit einem Anruf, habe aber wieder keinen Kontakt.
Ich stelle mir vor, für den Fall des Falles, an diese Straße da vorne zu gehen in der Hoffnung, dass ein Auto vorbei käme und hielte. Ich stelle mir weiter vor, wie ich auf Deutsch – halt, ist es eigentlich gut, in diesem Teil Polens deutsch zu sprechen? Ich versuche ihm – wieder denke ich rein männlich – auf Englisch zu sagen, dass ich ins Kloster Marienthal wolle und ob er mir sagen könne, wie ich dahin käme.
Oder sollte ich einfach rüber zu dem mehrstöckigen Haus gehen, an allen Klingen läuten und die etwaigen Bewohner nach dem Weg fragen? In welcher Sprache?
Seit eineinhalb Stunden warte ich nun in diesem Grenzgebiet auf polnischem Boden. Ich rufe wieder an und habe wieder keinen Kontakt.
Ich rufe meinen Mann an. Wenigstens einer soll wissen, dass ich hier stehe. In bewusst leichtem Plauderton erzähle ich ihm von meiner Situation. Er schimpft auf die schlechte Organisation. Aber das kann ich jetzt nicht gebrauchen. Ich will nur eine vertraute Stimme hören und ein „die kommen sicher gleich“.
Es nieselt noch immer. In meinem leuchtenden Anorak laufe ich wieder auf und ab, in meinem grünen Alleinsein nicht zu übersehen.
Ich atme tief durch. Einatmen. Ausatmen. Ich nehme meine Umwelt war. Den Wald hinter mir, die Felder und das Gebüsch um mich herum, das Haus gegenüber, die Starkstrommasten, in der Ferne die Industrielandschaft. Ich höre in mich rein. Wirklich beunruhigt bin ich (noch) nicht. Wieso eigentlich nicht?
Nach über zwei Stunden knackt es im Gebüsch. Zweige werden auseinander gebogen: Meine Mitwanderer sind da. Sie hatten sich verlaufen und unterwegs keinen Handyempfang.
Eine sagte: Dass du so lange gewartet hast? Das hätte ich nicht gekonnt.