Als ich die erste Seite von Helga Schuberts autobiografischem Buch »Vom Aufstehen« las, sprang mir diese Schreibidee gleichsam entgegen. Es ist eine Nachschreib-Idee (von denen man beliebig viele auch selbst erfinden kann, immer den eigenen Lieblingstexten nach).
Mein idealer Ort ist eine Erinnerung:
Helga Schubert: Vom Aufstehen, S. 7
An das Aufwachen nach dem Mittagsschlaf in der Hängematte im Garten meiner Großmutter und ihres Freundes (mein alter Freund, sagte sie) in der Greifswalder Obstbausiedlung am ersten Tag der Sommerferien.
Immer am ersten Tag der langen wunderbaren Sommerferien.
Ein Ort, der so dargestellt wird, als unveränderlich, ist ein Gegenentwurf zum unaufhörlichen Lauf der Zeit. Er ist Momentaufnahme und Ewigkeit. Es rührt uns, wenn wir an einen Ort zurückkehren, den wir lange nicht besucht haben, und ihn unverändert vorfinden. Denn wir suchen ständig Zuflucht vor der Zeit (und finden sie nicht). Mit dem biografischen Schreiben können wir ihr wenigstens für Stunden etwas entgegensetzen.
Was ist dein »idealer Ort«? Gibt es ihn noch, kannst du ihn besuchen? Findet er sich in deiner Erinnerung? Oder suchst du ihn in der Zukunft?
Schreibidee #86: Schreibe von deinem idealen Ort. Beginne mit den Worten: »Mein idealer Ort ist …«
2 Antworten zu “#86 — Mein idealer Ort”
Hallo Stefan
Ich habe spontan deinen Vorschlag aufgegriffen und schicke dir hier den Text, der dabei entstanden ist.
Liebe Grüsse, Mona
Mein idealer Ort
… ist ein Sehnsuchtsort. Zwar hat es ihn gegeben, sonst würd ihn mir die Erinnerung nicht in ungezählten Wiederholungen neu präsentieren. Immer wenn ich im Garten bin, tut sie das. Ist das nicht seltsam? Ich sehe die Gräser, Stauden und Farne, den modernden Haufen Grünabfall unter dem Ahorn, das Fleckchen Rasen, ich ziehe mir den Garten in die Nase, die Ruhe ins Bewusstsein.
Und plötzlich werd ich mir gewahr, dass ich allein bin wie das kleine Kind damals, und dass irgendwo die Erwachsenen sind, aber nicht hier. In diesem Alleinsein damals muss es gewesen sein, dass ich mich mit der Natur verbunden hab und der Grossmama, die wir an diesem Ort besuchten. Sie war aber nicht da für mich, und auch meine Eltern sind nicht hierhergereist, um mir etwas zu zeigen. Ich war nur lästiger Anhang. So hab ich immer auf die Grossmama gewartet, denn ich war fest davon überzeugt, dass irgendwann der Moment da sein würde, in dem ich wahr genommen würde und gewürdigt, der Moment, wo ich die volle Aufmerksamkeit der Nonna haben würde, denn anders konnte es doch gar nicht sein! Wozu war ich denn sonst auf die Welt gekommen? Wenn keiner Zeit hatte für mich und mich willkommen hiess, wenn es auf mich nicht drauf ankam, dann war mein Dasein doch völlig für die Katz, nicht?
Das war mein Denken und Fühlen als das Kleinkind, das mit den Eltern bei der Grossmama im Bergdorf in den Ferien war. Und ich gab nicht auf, nie. Eine ganze Kindheit lang habe ich gewartet. Als junge Erwachsene dann tröstete ich mich auf den Moment der Selbständigkeit, wo ich ohne die Eltern, die selber auch immer um ihre Aufmerksamkeit kämpften, zur Nonna zu Besuch gehen konnte, um endlich mit ihr zu reden! Um endlich ohne die nervöse Geschäftigkeit der Erwachsenen mit ihr im gleichen Zimmer zu sitzen, um mit ihr zu sein und zu plaudern. Auch würde ich ihr dann endlich all die Fragen stellen können über meine Familie, auf die nur sie die Antworten wusste, denn sie war doch schon da gewesen, bevor ich dazu kam, und nur sie könnte mir erklären, warum so Vieles seltsam war in unserer Familie. Vor allem über ihren Sohn, meinen Vater, musste sie doch Bescheid wissen.
Diese Erwartung lebte in mir so viele Jahre, und als ich endlich meine erste Stelle angetreten hatte, in der Selbständigkeit angelangt war und innerlich eine Gelegenheit suchte, um meine Nonna allein zu besuchen, da starb sie.
Ich lege mich in meinem Garten nun in den Liegestuhl, den Klappstuhl der gleichen Sorte, wie sie meine Nonna in ihrem Bergdorf gehabt hatte, in ihrem Gartenhaus hinter dem Tenn. Ich habe lange gebraucht, um zu merken, dass ich mir einen genau solchen Liegestuhl kaufen musste und keinen anderen. Als ich mich zum ersten Mal reinfallen liess, stieg ein Gefühl in mir hoch, das mich auf keinem anderen Weg hätte erreichen können. Ich war wieder das Kleinkind von damals, das zwar von der Mutter gelernt hatte, wie man den Stuhl richtig auseinanderklappte und einrasten liess, aber das damals nie den Frieden vorfand, um das Liegen darin auszuhalten. Immer lauerte eine Gefahr, weil man etwas Verbotenes tat. Jetzt aber, wo mich das Angebot eines Möbelgeschäfts darauf aufmerksam gemacht hatte, dass es Zeit sei, einen solchen Kappstuhl anzuschaffen, jetzt endlich darf ich in ihm sitzen und erkennen: da ist keine Gefahr mehr, kein Stress, keine Misstöne, keiner, der mir den Stuhl streitig macht, keiner, der mir den Frieden nimmt. Zurückgelehnt in diesem Stuhl zu liegen ist wie die späte Bestätigung, dass ich erwachsen geworden bin und frei.
Ich bin heute frei, mich zu erinnern an die unerschütterliche Hoffnung des Kindes, dass die Erwachsenen irgendwann mich willkommen heissen werden auf dieser Erde, frei, mich zurück zu versetzten in den Garten meiner Nonna, jedesmal, wenn ich mich im eigenen Garten bewege und merke, dass die Natur mir ersetzt hat, was die Menschen mir nicht geben konnten.
Liebe Mona, vielen Dank für diesen anrührenden Text. Zuerst ist da ein Ort, dann ein Bedürfnis, ein Objekt, und dann kommst du zurück auf eine Art von Ort, Natur, der Heimat heißen könnte. Ich kenne ein Buch, das heißt „Wir sind, was wir erinnern. Wie unsere Kindheitserinnerungen unsere Persönlichkeit bestimmen“ von Patrick Estrade. Ich habe das Gefühl, als könntest du von dieser einen Erinnerung ausgehend, dem nicht ganz idealen Ort Deiner Kindheit, ein ganzes Erinnerungsbuch schreiben, ein Memoir, in dem alles zusammenhängt und sich bedingt. LG Stefan