Bei vielen Anlässen erzählte mein Vater diese Geschichte: Als er im jugendlichen Alter war, nach dem Krieg, kam eine Tante aus Amerika zu Besuch. Sie hieß Stefanie. Er selbst war nach ihrem amerikanischen Mann benannt worden, darum trägt er einen für seine Generation recht ungewöhnlichen Vornamen, den auch ich als zweiten Vornamen im Pass habe. Reichlich Namenssymbolik.
Die Tante war unternehmungslustig und er fuhr sie mit dem Motorrad überall hin. Sie mochte ihn und fragte, ob er nicht mit ihnen kommen wolle, oder später nachkommen, auswandern ins gelobte Amerika. Als Hausverwalter in Brooklyn, New York, könne ihr Mann ihm eine Bleibe besorgen und an Schreinern sei stets Bedarf. Doch seine Mutter, erzählte mein Vater dann weiter, habe ihn geradezu angefleht, im Dorf zu bleiben. Er war ihr einziger Sohn neben drei Schwestern, und der jüngste dazu. Dass er kein Englisch konnte, spielte auch eine Rolle. „Nur acht Jahre Volksschule, das meiste davon im Krieg.“ Das Ende der Geschichte war uns Zuhörern bekannt: Er blieb.
Diese Geschichte hat in unserer Familie eine größere Bedeutung als andere, die mein Vater oder meine Mutter von diesem oder jenem Ereignis erzählten. Sie hat viel mit seiner Identität und abgeleitet mit unserer Familienidentität zu tun. Er ist der Sohn, der blieb. Und anders hätte es uns, trotz der häufigen Gedankenspiele „Was wäre gewesen, wenn …“ nicht gegeben. Darum nenne ich sie einen Familienmythos.
Ein solcher Mythos ist unerschöpflich. Er knüpft an kollektive Mythen an und wird durch die immerwährende Suche nach der eigenen Identität am Leben gehalten. Er ist vieldeutig, denn was Leben ermöglicht, kann es auch verhindern. Seine Erzählung kann exakt den Tatsachen entsprechen oder stark von ihnen abweichen. Die Identität, die der Mythos formt, kann angenommen oder verworfen werden. Man kann sie wertschätzen oder gegen sie ankämpfen.
Aus diesen Gründen bildet ein Familienmythos einen idealen Ausgangspunkt für eine autobiografische Erzählung. Mit ihm, um ihn herum, interpretierend, weitererzählend, lässt sich ein starker roter Faden spinnen, der auch einen langen Text, vielleicht ein ganzes Buch, tragen kann.
Welche besondere Geschichten wurden oder werden in deiner Familie erzählt? Welche sind wichtig genug, um als Familienmythos zu gelten?
Schreibidee #88: Schreibe einen solchen Familienmythos auf — und im Anschluss alles, was dir dazu einfällt, ohne viel nachzudenken oder zu ordnen.
Hinweis: Wenn du fertig bist, kannst du überlegen, ob dieser Mythos vielleicht einen guten Ausgangspunkt für eine längere autobiografische Erzählung bilden könnte.
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