Auf dem Bild ist das Wohnheim zu sehen, in dem ich als Student zwei Jahre verbrachte. Kurz vor dem Abriss. Es war schon merkwürdig, das in der Zeitung zu lesen. Ich bin auch einmal an der Bauruine vorbeigefahren, um mich zu verabschieden.
Die Zeit vom 2. bis zum 5. Semester meines Studiums (Philosophie/Physik/Pädagogik in Mainz) war eine der wichtigsten Zeiten in meinem Leben. Ich wurde selbstständig, las querbeet, grübelte viel und diskutierte bis spät in die Nacht mit Freunden. Kurz bevor ich umzog, kochte ich zum ersten Mal für meine spätere Frau, in der etwas schmuddeligen Stockwerkküche.
Unsere Wohnungen und Häuser spiegeln Lebensumstände und Charaktereigenschaften. Im Gedächtnis bleiben uns Stimmungen, Bilder und die Erinnerung an prägende Ereignisse, die untrennbar mit diesem oder jenem Ort verbunden sind.
Manchmal fahren wir noch einmal hin, blicken gegen die Fassade unseres Elternhauses, laufen an einem Häuserblock vorbei, aus dessen Fenstern wir einmal auf die Welt sahen. Selbst wenn nichts mehr davon übrig ist, finden wir »vor Ort« vielleicht etwas, das uns zum Archäologen unserer Vergangenheit macht.
Schreibidee #90: Beschreibe ein Haus oder eine Wohnung, in dem/der du einmal gelebt hast. Und ein wichtiges Ereignis, das sich dort abgespielt hat.
Hinweis 1: Das Elternhaus steht für die gesamte Kindheit. Für diese Schreibidee eignen sich besser solche Orte, an denen man vorübergehend gelebt hat.
Hinweis 2: Trenne in deinem Text die Beschreibung des Ortes von der Schilderung des Ereignisses. So forderst du dein Gedächtnis, schaffst ein wenig Distanz zu den Erlebnissen und gibst Leser/innen mehr Möglichkeiten, den »Lebenshintergrund« kennenzulernen und sich in die Szene einzudenken.
3 Antworten zu “#90 — Dort wohnte ich einmal”
Jetzt ist Krieg in der Ukraine. Täglich. Immer bedrohlicher. Für die ganze Welt.
… ein Krieg kann irgendwann wieder aufhören. Dies schreibe ich für meine Enkel,
um zu erzählen, wie für mich eine hoffnungsvolle Zeit nach einem langen Krieg aussah.
9 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges.
Für meinen Vater galt:
Wir, seine Töchter, durften den Führerschein machen — dies in einer Zeit, in der andere Frauen noch nicht Auto fuhren.
Wir Mädchen sollten aber auch „haushalten“ und eine zusätzliche Sprache lernen, zum Beispiel als „Au pair“ Haushaltshilfe in England, Frankreich oder Italien.
Für einen jederzeit möglichen nächsten Krieg mussten wir natürlich auch einen praktischen Beruf lernen.
Es war klar, dass ich eine gute Tochter sein wollte.
Irgendwann dann: Alles hatte ich geschafft. Jetzt durfte ich machen, was ich wollte.
Ich wollte endlich studieren. Musik — weil ich Mozart liebte, gerne mit Kindern singen wollte und bereits die schnellen Noten des „Wohltemperierten Klaviers“ von J.S. Bach auf einer klapperigen, altmodischen Tastenschreibmaschine übte.
Ich plante: Ein Sprachstudium fürs Lehrfach am Gymnasium — gleichzeitig 3 Jahre lang für die Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule üben, üben, üben … währenddessen möglichst viel selber arbeiten.
Im Rucksack: 1 Kochplatte (15 cm), 1 kleiner Topf, 1 Pfanne, 1 Trainingshose, ein paar geliehene Noten, 1 Stenoblock, Stenostifte (denn alles musste in der Vorlesung noch mitgeschrieben werden. Bücher konnte ich nicht kaufen).
1. Wintersemester in Tübingen: Wohnraum war knapp. Ein winziges Mansardenzimmer im Dachgeschoß einer Gärtnerei am Stadtrand. Als „Waschgelegenheit“ nur ein Gartenschlauch, unten in der Waschküche des alten Gebäudes.
Ich brauchte kaum väterliches Geld, weil ich bei allen herbstlichen Arbeiten auf dem nebeligen Kartoffel- und Karottenacker am Neckar mithelfen konnte. Dort fand ich auch genug zum Essen. Doch meine zukünftigen Klavierhände wurden dick, müde, unbeweglich.
Zweimal in der Woche durfte ich in der Stadt ein baufälliges Klavier benutzen. Dies stand in einem lichtlosen Kabuff in dem spitzen Giebel eines mittelalterlichen Fachwerkhauses –- in so einem schrägen, vollgestellten Abstellraum unterm Dach, der eigentlich nur sitzend zu erreichen war, weil er nicht höher als das Klavier selbst war. Spielen durfte ich aber nur von 8 bis 9 Uhr, während die Vermieterin in ihrem Wohnzimmer nebenan mit dem Staubsauger ihren ganz eigenen Lärm machte.
Dann, oh Wunder: Für das folgende Sommersemester fand ich ein Zimmer mit Klavier, direkt am Marktplatz: Kopfsteinpflaster, holpernde Gemüsekarren ab 4 Uhr morgens.
Die Gehsteige wurden jeden Morgen mit Besen und Putzlumpen gereinigt. Neu war für mich — die ich zwar in Berlin, aber abseits am Waldrand aufgewachsen war — dass jede Hausfrau, die stolze Besitzerin eines Fensters mit Blick auf den Markt war, ein ganz spezielles „Fensterkissen” hatte, um alles beobachten zu können, was unten im Getümmel oder auch gegenüber bei der Nachbarin im Wohnzimmer passierte.
Auch hier lebte ich billig, denn mein neue Arbeit bestand darin, dass ich irgendwie damit klar kommen musste, dass mein Raum einem anderen kleinen Zimmer vorgelagert war, das keine eigene Tür nach draußen auf den Gang hatte. Dort war eine freundliche, demente Großmutter untergebracht. Sie suchte nachts mein Bett mit ihren Händen ab und strich am Tag zusammen mit mir über die Tasten des Klaviers.
Das 3. Semester war ein Rückfall: Ohne Klavier. Sechs kalte Quadratmeter im Keller eines feuchten Hanghauses; dieses Mal direkt neben der Waschküche. Inzwischen hatte ich immerhin ein Fahrrad, das ich nachts in dem winzigen verbleibenden Raum zwischen Tisch und Kommode rückwärts einparken musste.
Mein Freund durfte mich dort nicht besuchen. Die Vermieterin fand, dass unsere Sternzeichen nicht zusammen passten. Doch er hatte Glück: Bei seinen Besuchen fand er einen anderen Schlafplatz: In einer rostigen Badewanne mitten in einem großen leeren Versammlungsraum eines kirchlichen Hospizes — ungelogen!
Oben im Haus hatte eine nette Studentin ihr Klavier mitgebracht. Sie übte viel. Wir spielten manchmal zusammen.
Meine Bude im 4. Semester ist schnell beschrieben: Ich konnte sie nur verlassen, wenn ich vorher Notenpult plus Geige zusammenklappte. Für lange Töne mit voller Bogenlänge war kein Platz.
Das 5. Semester, zwar mit Geige, aber wieder ohne Klavier, versuchte ich abzukürzen. Ich kam mit meinem öden, grauen Zimmer im Kasernenviertel nicht klar: Ein einziges, teils emailliertes, teils verdellertes Waschbecken im offenen Treppenhaus; dort auch die gemeinsame Toilette für die Bewohner von mehreren Stockwerken eines Mietshauses in der Vorstadt.
Als Kind hatte ich viele Soldaten in ihren Uniformen erlebt. Meine Eltern haben mir, wenn ich alleine unterwegs sein musste, eine Waffe im Rucksack mitgegeben. Die sollte ich, wenn in Gefahr, jemandem in die Hand drücken, der mich dann damit beschützen würde. Ich hatte damals keine Angst.
Jetzt, mit 22 Jahren, mit einer Geige unter dem Arm und mit diesen vielen Freizeitsoldaten auf der unbeleuchteten Straße, hatte ich Angst. Und wusste doch eigentlich gar nicht, wovor.
Inzwischen kannte ich zwar alle Dramen von Shakespeare (16. Jahrhundert) und „The Lost Paradise“ von Milton (17. Jahrhundert), doch ein bezahlbares Zimmer mit Klavier in meinem eigenen Jahrhundert fand ich nicht. Ich jobbte zeitweise zu Hause bei meinem Vater im Büro.
Meine Eltern fragten nicht und ich wusste auch nicht, was ich hätte erzählen können. Es gab viel zu tun. Deutschland wurde immer noch aufgebaut.
Eigentlich hat damals — anders als heute — niemand über irgendeinen Mangel gesprochen. Ich selbst fragte nicht viel, war aber neugierig und glücklich, lernen zu dürfen.
Dann noch ein letzter Versuch: ein Sommersemester mit zerschlissener Couch auf einem mit Weinlaub überwachsenen, halb überdachten, breiten Balkon mit Außentreppe. Romantisch wie eine Gartenlaube. Ziemlich luftig, doch mit wunderbarem Sonnenaufgang überm Neckartal, in einem Forsthaus einige Kilometer vor der Stadt. Bei Regen blieb ich so viel wie möglich in der Bibliothek.
Die Aufnahmeprüfung in die Musikhochschule schaffte ich nicht.
Man sagte mir nur: Musikalisch, aber noch nicht für Beethoven geeignet.
Später habe ich dann noch öfters studiert.
Anders. Bis heute.
Urimua
SOLAMENTE UNA VEZ
Some places wear unforgettable beauty “Solamente una Vez”.
Why then, do I return over and over again to a place of warm retreat, so sacred to me,
as if all the memories are still in place, unchanged, untouched, unbelievable.
Ready to bewitch me just as spellbinding as their originals from another moment in time …
… Until I stand in front of change and sadness creeps into my eyes,
erasing almost every picture of my beloved exhibition. My breathing becomes heavy, my heart is feeling low and withdraws into its deepest caverns, as if to say: “This is not what I felt the first time I was here. This place is dead, is lifeless, lonely and forgotten and its rooms misunderstood.”
My entire body senses that the soul has disappeared from the soil I’m standing on.
An icy cold creeps through volcanic rock and world wide wood. Their innate stories lost and broken like the colors and the spirit of Aztec tiles and tapestry. A morbid smell descends from plundered shelves and decomposing books. Some of the forgotten cups and vases seem to hold on to the sensuous notes the piano sung for me a long long time ago.
The laughter and the smiling faces, the joy and the jests and the marvelous stories …
all gone with the prevailing winds. The beach bare and barren, bleached of its treasures … Paradise lost … Gone with the wind. I am staring at an epic poem, a classic novel whose pages have been torn to pieces,
whose final chapter was denied the chance to be written in free verse.
Perhaps, “I want the old days back again and they’ll never come back, and I am haunted by the memory of them and of the world falling about my ears.”
Now, a skeleton of new beginnings is breathing its bad breath through imported views. Make-believe has already written its dead lines in every crack of each unfinished wall. Estranged windows from abroad choking the natural breeze to its last exhale. I sink toward the sand and feel myself praying: To all Could-have-beens and Should-have-beens, To every unseen possibility and the unbeaten paths nobody took.
The soul of a tropical dream has been stolen
and with it its spirit of mystery, history, love and belonging. Flamboyant stories and their adventures have vanished,
all pirates and princesses have disappeared.
Though every time I come back I pick up a seashell, a coral, a piece of driftwood and if the ghosts are in a jolly and reminiscing mood, I even find a tiny shard of Mexican tile. And as I touch them and smell them and hold them close to my ear, I can hear their whispers, can even taste the silent tears that have fallen on glistening sand when nobody listened.
The happy and the broken hearts, their longings and their blessings – I hold them in my hands, right here, right now: “Angels of the Ocean” – they are hard to let go. I feel the magic which doesn’t forget and like me, returns over and over again, just to see if there’s a little, just a tiny little bit of beauty left.
Beauty of a time when this place felt like “Coming Home”.
… and the longer I listen, I become free of all thoughts, knowing now that the only thing I can do to comfort this trembling heart, is to not drag memories inside.
Some places wear unforgettable beauty “Solamente una Vez”.
(“Solamente Una Vez” war der Name eines alten Anwesen auf einer kleinen karibischen Insel, an dessen Bootssteg mein Mann und ich uns vor 25 Jahren kennenlernten. Heute ist daraus eine moderne luxuriöse Ferien Villa mit Cottages geworden, deren Investoren an keiner der magischen Geschichten, die dieser Ort und seine Bewohner erzählen konnten, interessiert waren. Ich besuche Solamente Una Vez jedes Jahr und höre zu.)
Liebe Frau Tulle,
vielen Dank für diesen schönen traurigen Text. Auch zu Hause im Taunus erlebe ich immer wieder, wie die Schönheit privatisiert und Geld herausgepresst wird, bis nichts von ihr übrig zu sein scheint.