»Wie konnte sie nur diese Meinung vertreten?«, »Wie konnte er das nur tun?«, »Hat sie das wirklich geglaubt?«, »Ich kann nicht verstehen, was er sich dabei gedacht hat.« — Solche Gedanken und Aussagen sind meistens rhetorisch gemeint. Anstatt verstehen zu wollen, was in dem anderen vorgeht, ziehen wir eine Grenzlinie. Konflikte verhärten sich.
Der erste Schritt zu einer Lösung könnte darin bestehen, etwas Grundsätzliches anzuerkennen: Unser Gegenüber könnte Gründe haben, die aus seiner Sicht ebenso berechtigt sind wie die eigenen. Wir verstehen sie nur nicht. Ihre Interessen könnten anderswo liegen, als wir vermuten. Die Situation könnte reziprok sein: Aus einer anderen Perspektive könnte das, was wir denken und glauben, ebenso unverständlich erscheinen.
Das (auto)biografische Schreiben sollte nicht dazu führen, dass wir uns immer stärker in unserer eigenen Welt einrichten und Fremdes als unverständlich ablehnen. Stattdessen kann es dazu beitragen, uns selbst ein wenig besser zu verstehen — und wie uns die anderen »von außen« sehen. Denn wir selbst schauen auf unser vergangenes Ich ein wenig »von außen« und versuchen, uns selbst besser zu verstehen.
Geschichten ermöglichen uns, in die Haut eines anderen zu schlüpfen. Ihre Sichtweise besser nachvollziehen und nachfühlen zu können. Fantasie und Einfühlungsvermögen helfen dabei oft mehr als Argumente.
Schreibidee #96: Schreibe über einen Konflikt in deiner Vergangenheit aus der Sicht deines Gegenübers.
Hinweise: Gab es einen Konflikt in deiner Vergangenheit, den du nicht lösen konntest? In der Familie, im Freundeskreis, auf der Arbeit, in politischen Zusammenhängen? Stelle dir vor, wie du und deine Argumente, Meinungen, Verhaltensweisen »von außen« gewirkt haben mögen. Stelle nicht alle Zusammenhänge dar, an die du dich erinnerst, sondern konzentriere dich auf einen Aspekt.
2 Antworten zu “#96 — Perspektivwechsel”
„Ach du mit deinem defizitären Blick!…“
Wenn du weiter so machst, wirst Du dich nie richtig freuen können! Schluck doch endlich deine Brocken aus den vergangenen mageren Kriegszeiten runter und genieße die Fülle der Gegenwart, in der du lebst – solange du noch lebst. Fast klingt es so, als ob du dir – und damit aber auch uns Jüngeren – nicht erlauben könntest, dass heute dein Kühlschrank jeden Tag voll ist.
Konsum ist doch nicht nur negativ: Du könntest doch wenigstens einmal froh sein, dass du jetzt ein volles Bücherregal hast – statt uns vorzuhalten, dass wir unsere Zeit mit dem Handy am Strand verdaddeln, – während du Arme früher in allen Vorlesungen in kalten Räumen hocktest, dabei nur mühsam den durch den Krieg gequetschten und eingefrorenen Stimmen folgen konntest und eher wahllos jedes beliebig geäußerte Wort erst einmal nur mitschreiben musstest- weil es keine Bücher zu kaufen gab. Ja, die Überwindung solcher Umstände hat dich geprägt.
Heute hast du selber zwar eine warme Stimme –ich kann da schon ahnen, wie sehr du dich mit deiner Zeit auseinandergesetzt hast und – das ist das Entscheidende – dass du an deiner Zeit auch gewachsen bist.
Aber auch wir Jüngeren stecken in einem solchen Prozess. Doch nicht der Mangel, sondern die Fülle von Angebot fordert uns heraus. In der gleichen Zeit, in der du vielleicht früher Gedanken und Wissen grüblerisch auf dem Papier zusammengetragen hast, müssen wir uns heute jeden Tag ganzschnell einen Überblick über alles bereits Angesammelte schaffen, rigoros aussortieren, beurteilen und entscheiden, warum eine einzige bestimmte Information jetzt genau für diesen Augenblick für uns entscheidend ist und uns zum persönlichen Handeln und Kommunizieren im rasant sich verändernden Alltag befähigt
.Ich will versuchen, dich zu verstehen, während du schweigend den Wolken hinterher schaust.
Ich sitze derweil an meinen Laptop – mache tipp und klick – und gehe in den Pausen joggen und surfen…
Nimm auch du mich ernst. Bitte. Frieden braucht von allem was:
Zögerndes Nachdenken, ständiges Unterwegssein und auch freudiges Riskieren!
Liebe/r urimua,
vielen Dank für diesen Generationen-Perspektivwechsel.
Die Sehnsucht nach Anerkennung vermeintlich geringerer Schwierigkeiten und Bemühungen der Enkelgeneration kenne ich gut, sowohl aus dem Privatleben als auch als Biograf.
Am Ende scheint sich eine Urlaubs-Szene herauszuschälen, die den vorherigen “Du-Gedanken” einen Ort gibt. Das ist ein reizvoller Effekt.