Spätestens, wenn es auf Weihnachten zugeht, beschäftigt viele der Gedanke, wie rasch das letzte Jahr verging. War nicht eben erst noch Januar? An Silvester nehmen wir uns dann vor, das kommende Jahr besser zu nutzen, bewusster zu erleben. Und steuern direkt auf neue Enttäuschungen zu.
Denn solange wir »zielorientiert« denken, wie im Beruf, scheint die Zeit nie auszureichen. Das nächste Ziel, der nächste Gipfel, wartet immer schon am Horizont. Der Weg, den wir bereits zurückgelegt haben, scheint nicht der Rede wert zu sein.
Wie heilsam kann dagegen ein Rückblick sein! Lassen wir Revue passieren, was in den zwölf vergangenen Monaten geschah, was wir erlebten, was wir geleistet und erreicht haben. Wir bemühen unser Gedächtnis (und Notizbücher/Kalender/Fotografien), holen vieles hervor, was wir beinahe schon vergessen hatten. So wird klar: Das letzte Jahr war länger, voller, vielleicht auch schöner, als gerade noch gedacht.
Besonders ergiebig ist es, jeden Monat des letzten Jahres einzeln in den Blick zu nehmen. Schreibe für jeden Monat eine Seite in dein Notizbuch oder auf Karteikarten. Denn auch vermeintlich »normale« Zeiten, ohne Feste oder Ferien, brachten gute, erlebnisreiche Tage, wir leisteten gute Arbeit und hatten Erfolge, die nicht in Vergessenheit geraten sollen. (So entsteht, von Jahr zu Jahr, auch eine Art Lebensarchiv.)
Für einen summarischen Jahresrückblick ist weniger Erinnerungs-Arbeit nötig. Hilfsfragen dafür: Welche schönen Momente habe ich erlebt? Was habe ich neu gelernt? Wofür war ich dankbar? Was kam überraschend? Was machte mir besonders viel Spaß? Worüber ärgerte ich mich? Worüber konnte ich lachen? Was war der schwierigste/schönste Moment im letzten Jahr? Wovon musste ich mich verabschieden? Welches Gewohnheit möchte ich im nächsten Jahr beibehalten?
Schreibidee #98: Schreibe einen Jahresrückblick (monatsweise oder im Ganzen).
Hinweis: Ein solcher Jahresrückblick kann auch zur Grundlage für einen Jahresbrief dienen, den man zum Jahreswechsel an Freunde und Verwandte schickt.
2 Antworten zu “#98 — Jahresrückblick”
Schreibidee 98: Jahresrückblick 2022
2022 – schon wieder Krieg? Ein Jahresrückblick? Eher ein Nachruf. In die Jahre…
Fast hätte ich mich bereits in Gedanken über die vergangenen Monate verloren –
Es fing an mit dem Wort „rück – blicken“
Mit dem alten Kalender in der Hand türmten sich konkrete, teils sehr bedrohliche Ereignisse des letzten Jahres vor mir auf – ich fixierte und reflektierte sie – ließ mich noch einmal berühren – und legte sie wortlos beiseite, um einen neuen Kalender auf den Tisch zu legen.
Dann am 23. Dezember, nur ein Anruf: „Wir haben, wie vereinbart, Ihre Geige verkauft.“
Plötzlich genügt das Wort „Jahresrückblick“ nicht mehr. Dieser kurze Augenblick, diese abrupte endgültige Abwesenheit meiner Geige, öffnet einen ganz anderen zeitlichen Raum; ich werde unruhig, will nicht mehr „blicken“, will rufen – in Jahre zurück –
Erinnerungen klingen hoch, hallen nach – überstürzen sich ohne Datum, machen mich alt und fast hilflos, weil ich sie fassen und ordnen will… wo gibt es Worte dafür?
Als kleines Mädchen hatte ich zwei weiche Stoffpuppen. Ich liebte und streichelte sie –
Stunden vergingen… ich hielt sie fest im Arm, wir erzählten uns was… und nachts waren sie immer bei mir, dicht an meinen Hals gedrückt. Kinderzeit…
…plötzlich laufe ich wieder singend durch hohes Gras, höre die Bienen, rieche den Wald …
später begleiten die beiden Puppen mich auch in den Bombennächten. Alles ist noch gut…
Auf einmal waren sie weg. Ich wurde ständig an einem anderen fremden und unruhigen Platz abgesetzt. Leben musste neu erfunden werden. Für erklärende Worte fehlte Zeit und Vertrauen.
Was lässt sich verstehen und beschreiben, wenn jeder Augenblick wechselt?
Heute, nachträglich, versuche ich mir vorzustellen, wie mein Vater 1946/47 – nach dem Krieg vor sich hin schweigend – für mich diese Geige „organisiert“ hat.
Hat er die Geige als etwas „Überlebenswichtiges“ eingetauscht gegen etwas „nur alltäglich Wichtiges?“, von ihm selbst Ausgedachtes, Technisches? Ich habe, bis heute, nie danach gefragt. Dabei erinnere ich mich, dass er, der vorher Flugzeuge gebaut hatte, auf den Müllhalden nach den von den amerikanischen Soldaten weggeworfenen olivfarbenen Käsekonservendosen suchte, um Kochtöpfe und Gießkannen herzustellen…
Wir lebten als Berliner Flüchtlinge in einem kleinen oberbayerischen Dorf am Starnberger See, ohne Bahn oder Bus; später fuhr ein klappriger, schnaufender Raddampfer als Schulschiff. Ich weiß heute immer noch nicht, was sich damals eine Zwölfjährige unter einem „Schwarzmarkt“ hätte vorstellen können; ich weiß nur noch, dass plötzlich eine Geige da war und ich einen Sommer lang zu einer Frau fahren durfte, die Geige spielen konnte…sie wohnte da drüben am anderen Ufer des Sees.
Ich fuhr, nachmittags, nach ein paar Schulstunden in der nächsten kleinen Stadt, mit einem Bummelzug, auf offenem eisernen Trittbrett ohne Geländer sitzend, nach all diesen wirren Jahren, jetzt eine Geige im Arm… ganz nah vorbei an dem Gelände einer ehemaligen Reichsschule der NSDAP… jetzt, nach dem Krieg, ein jüdisches Lager für sogenannte“ Displaced Persons“ (ein DP Camp), in dem seit Mai 1945 befreite KZ Opfer lebten und auf ihre Auswanderung nach Israel warteten…
Ich war noch klein – ich war die Jüngste in meiner Familie – und fuhr, ahnungslos an all diesen Geschehnissen der großen Welt vorbei – bis in das nächste Dorf…um zu lernen, wie man friedlich miteinander musizieren kann. Im Krieg hatte ich in glücklichen Stunden erlebt, wie Musik trägt und verbindet. Ich wollte bestimmt keine Virtuosin werden; nun ja, vielleicht stützende zweite Geige in einem Quartett oder, vielleicht lieber – später, wenn groß genug, kraftvoll und eigenständig – mit einem Cello – und einer eigenen Familie und vielen Kindern –
Heute betrachtet hat meine Geige innen drin ein dunkles, vergilbtes Foto … eine handschriftliche Signatur… Warschau 1937… das düstere Gesicht eines immer noch bekannten jüdischen Geigenbauers, der, wie ich dieses Jahr im nüchternen Googleton erfahren habe, „zuerst nach Deutschland geflohen ist, dann noch rechtzeitig nach New York entkommen konnte und dann dort später seine Frau ermordet hat und im Gefängnis gestorben ist“ –
So tauchen plötzlich und unerwartet anonyme Erinnerungen auf – aus der Kriegszeit, zu deren Kinder ich gehöre. Ich ahne, meine Geige hatte zunächst nur den Wert einer Fahrkarte für die überstürzte Schiffsreise eines jüdischen Menschen. Dann, in unserer Hungerszeit nach dem Krieg, brachte mein Vater, auf seine Weise über Krieg und Hoffnung schweigend, dieses Instrument von irgendwo her.
Meine Geige – und sein Schweigen – haben mich ein Leben lang begleitet.
Jetzt hat ein neuer Liebhaber sie gekauft und nimmt sie in den Arm; vielleicht streichelt er sie sogar.
Im Traum kann ich mit meinem Vater darüber sprechen.
Jahresrückblick – Jahresringe
Das Bild der Baumscheibe mit den Jahresringen verleitet geradezu, sich wieder einmal Rückblick-Gedanken zu machen.
Ich erinnere mich an einen Spaziergang nun schon vor etlichen Jahren. Wir sind durch den verschneiten Winterwald gestapft und an einem Stapel gefällter Bäume stehen geblieben. An einem konnte man ganz exakt die Jahresringe ausmachen und ich begann zu zählen – und kam auf über hundert Ringe, mal breitere mal schmalere, ausgeprägt je nach Wachstum des Baumes und klar erkennbar durch den dunkleren Abschluß gegen Ende der jeweiligen Wachstumsschicht. Und staunend und fast ehrfurchtsvoll stellte ich fest, dieser nun gefällte mächtige Baum begann zu wachsen, als meine 1895 geborene Pflegemutter ein kleines Kind war, hat ein langes Menschenleben beschattet und an der Wende des Jahrtausends um gut zwanzig Jahre überlebt. Was mag er wohl alles gesehen und überstanden haben an Stürmen, Unwettern, heißen Sommern, guten Winden und sanftem Schneefall … Rehe und Wildscheine, die unter seinen tiefhängenden Zweigen Schutz suchten und Mäuse und Eichhörnchen, die die Samen aus den Zapfen nagten … bis dann die Waldarbeiter kamen und die Säge ansetzten. Und selbst jetzt ist er weiterhin wertvoll und kostbar mit seinem alten Holz. Wer weiß, was daraus noch alles entstehen wird.
Ich erinnere mich noch heute gerne an diese wunderschöne Baumscheibe, die mir auch ein Sinnbild für das Wachsen und Vergehen, für Jahresende und Jahresanfang ist.