Wer liest schon freiwillig Bücher zur Literaturgeschichte? Ich tu es manchmal! Denn was gerade ganz neu zu sein scheint, gab es irgendwann doch schon. Und es ist aufschlussreich zu erfahren, wie man in früherer Zeit mit dem einen oder anderen Phänomen umgegangen ist. Wer nicht weiß, wo er herkommt …
Für biografika habe ich mir die populäre Geschichte des Memoir von Ben Yagoda angesehen, einem amerikanischen Journalismusprofessor. Ich bin auf spannende und erhellende Zusammenhänge gestoßen. Hier einige davon.
Autobiographically speaking, there has never been a time like it. Memoir has become the central form of the culture: not only the way stories are told, but the way arguments are put forth, products and properties marketed, ideas floated, acts justified, reputations constructed or salvaged.
Yagoda: Memoir, S. 28.
(Autobiografisch gesprochen ist es eine einmalige Zeit. »Memoir« wurde zur zentralen Form unserer Kultur: Nicht nur die Art, wie Geschichten erzählt werden, sondern auch die Art, wie Argumente vorgebracht, Produkte und Besitz vermarktet, Ideen verbreitet, Handlungen gerechtfertigt werden und persönliches Ansehen aufgebaut oder gerettet wird.)
Memoir oder Autobiografie?
»Memoir« ist die im Englischen häufigste Bezeichnung für eine autobiografische Gattung. Yagoda benutzt sie häufig gleichbedeutend mit »autobiography«, was wiederum deckungsgleich zur deutschen »Autobiografie« zu verstehen ist. Der Unterschied besteht für ihn nur darin, dass der Lebensbericht einer Autobiografie nach üblichem Verständnis die ganze Lebensspanne umfasst, während ein »Memoir« sich auch auf eine begrenzte Lebensphase oder ein bestimmtes autobiografisches Thema beziehen kann. Auch in der deutschen Verlagslandschaft hat sich »Memoir« als Bezeichnung solcher Bücher eingebürgert, die bestimmte, klar umrissene Erfahrungen vermitteln.

Ein Meilenstein zur Etablierung dieses Genres war sicherlich Betty Mahmoodys (für das Image von Muslimen leider katastrophales) Buch »Nicht ohne meine Tochter«. Leider gibt es kein deutsches Wort, dass den professionell gefärbten Gebrauch von »Memoir« akkurat wiedergibt. »Erinnerungen« klingt blass, »Memoiren« im Plural lassen vor allem an die Erinnerungen öffentlicher Personen wie Politiker oder Unternehmer denken.
Warum die englische und amerikanische Welt das »Memoir« zur zentralen Bezeichnung des Ergebnisses autobiografischen Schreibens machte, im Deutschen dagegen der Begriff der »Autobiografie« oft falsche Ansprüche transportiert, liegt — die Geschichte zeigt es uns — an den jeweiligen literarischen Vorbildern: Während der deutschsprachige Raum lange in Goethes Fahrwasser segelte und sich den Bildungsroman zum Vorbild für das autobiografische Schreiben nahm, ist es in England und Amerika ein gänzlich anderes: der Abenteuerroman!
Robinson Crusoes Autobiografie/Memoir
Im England des 17. Jahrhunderts waren autobiografische Schriften en vogue, die die religiöse Erweckung oder Bekehrung ihrer Verfasser in den Mittelpunkt stellten. Dabei kamen, wie schon beim Kirchenvater Augustinus, die mannigfaltige Sünden zur Sprache, denen man endlich entflohen war. Auch fantastische äußere Umstände und reichlich innere Dramatik wurde beschworen: Schließlich ging es um alles, um das eigene Seelenheil.

In diesem intellektuellen Klima begann Daniel Defoe (1660-1731), der zunächst als Kaufmann arbeitete, politische Schriften zu veröffentlichen und als Journalist zu arbeiten. Um das große Spektrum seiner Kenntnisse und Überzeugungen zu bündeln, verfiel er schließlich auf das flexible Genre des Memoir und »etablierte die Praxis des literarischen Baurednertums«, wie es Yagoda ausdrückt (S. 45): Er schrieb fiktive Autobiografien. Zuerst drei Bände mit Protagonisten, die in reale politische Vorgänge verwickelt waren, und dann ein Buch mit folgendem Titel:
The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pirates. Written by Himself. („Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der 28 Jahre allein auf einer unbewohnten Insel an der Küste von Amerika lebte, in der Nähe der Mündung des großen Flusses Oroonoque; durch einen Schiffbruch an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnung, wie er endlich seltsam durch Piraten befreit wurde. Geschrieben von ihm selbst.“)
So lautet der vollständige Text des Buches, das ohne den Namen Defoes erschien und statt dessen mit einer Herausgeberfiktion, in der sich der erfundene Herausgeber ausdrücklich für die Faktizität des Erzählten verbürgt. Auch seine nächsten Romane schrieb Defoe in der Form von Autobiografien — und setzte zurecht darauf, dass die Leser der Zeit den Ich-Erzähler für den Autor halten würden.
Es ist also keineswegs so, dass moderne »autofiktionale« Texte sich auf völlig neuartige Weise dem Roman näherten und so die fließenden Grenzen zwischen Roman und Memoir/Autobiografie entdeckten. Roman und Memoir wuchsen vielmehr auf dem gleichen Kompost. Es war schon immer knifflig, sie auseinanderzuhalten.
Memoirs und Romane: Kaum zu trennen
Die Ich-Erzählung des Schiffbrüchigen Robinson war für die Zeitgenossen nur schwer von einer echten autobiografischen Erzählung zu unterscheiden. Obwohl einige Überlegungen zur Plausibilität stutzig machen konnten. Wie sollte jemand, der 28 Jahre alleine lebte, derart sprachmächtig bleiben? Entsprechend gab es Kritiker, die Defoe der Lüge bezichtigten, während andere Robinsons Geschichte für wahr hielten.
But Defoe wasn’t trying to deceive anyone. He merely recognized, and was one of the first authors to exploit, the fact that human beings respond powerfully to narratives that are (or make credible claims to be) true.
Yagoda: Memoir, S. 47f. (Doch Defoe wollte niemanden betrügen. Er erkannte lediglich, und war einer der ersten Autoren, die die Tatsache nutzten, dass Menschen stark auf Geschichten reagieren, die wahr sind (oder glaubwürdige Ansprüche auf Wahrheit erheben).

Dass sich Roman und Memoir/Autobiografie nicht durch ihre erzählerischen Mittel unterscheiden, sondern allein durch ihren Bezug zur Wirklichkeit, lässt sich daran erkennen, dass Defoes Robinson breite Nachahmung fand. Einerseits beeinflusste er eine Welle von Erzählern, die meinten, ihre eigenen Abenteuer seien womöglich ebenso interessant wie Robinsons, und Memoirs schrieben. Andererseits folgten viele namhafte Schriftsteller Defoes Beispiel und schrieben Romane in der Form quasi-autobiografischer Ich-Erzählungen. So dass das Publikum das Spiel allmählich verstand und ihre Bücher nun als fiktional einordnen konnten: Laurence Sterne, Samuel Richardson in England; später James Fenimore Cooper, Herman Melville und Mark Twain in Amerika. Melvilles sechs erste Romane waren allesamt Ich-Erzählungen und Abenteuergeschichten auf See, Moby-Dick war 1851 der letzte davon.
Bis die klare Grenze zwischen Autobiografie und Roman in der breiten Öffentlichkeit etabliert war, sollte es nach Yagoda noch lange dauern (vgl. S. 155).
Rousseau vs. Franklin
Von der Form zum Inhalt. Während Yagoda den Bildungsroman und die Autobiografie à la Goethe beiseite lässt, nennt er zwei inhaltlich bis heute stilprägende Bücher, die als literarische Muster ihren je eigenen Tradition gelten können: Jean-Jacques Rousseaus Les Confessions (Die Bekenntnisse, 1765–1770, veröffentlicht 1782) und Benjamin Franklins Autobiography (1771-zu Franklins Tod 1790, posthum veröffentlicht).

Rousseaus Werk ist die erste wahrhaft psychologische Autobiografie. Ihm ging es um die Darstellung des Menschen an seinem Beispiel, die er für umso wertvoller hielt, je wahrhaftiger und offener sie ausfällt. Darum spart er auch scheinbar Kindisches nicht aus, ebenso wenig wie Erlebnisse und Gefühle, die für unschicklich gehalten wurden. In seiner Tradition stehen sämtliche Kindheitserinnerungen, romantische Beschreibungen des eigenen Innenlebens und alle »Bekenntnisse« an die Öffentlichkeit, bis hin zu den heutigen Exzessen der Offenheit bei Emmanuel Carrère oder Karl Ove Knausgard.

Benjamin Franklins Selbstbiografie enthält dagegen viele Anekdoten und Lebensweisheiten, die als nützlich präsentiert werden. Selbstzweifel und Analyse sind ihr fremd. Franklin zeigt sich als kluger Beobachter und kompetenter Problemlöser. Auch als meinungsstarker Mann der Öffentlichkeit. So wird sein Text zum Urbild vieler Lebenserinnerungen von Unternehmern und »Selfmademen«, ebenso wie der heute sehr beliebten autobiografisch gefärbten Ratgeber und Jetzt-weiß-ich-wie-man-lebt-Bücher.
Die Pointe: Man kann (in einem Werk) nur einem von beiden nachfolgen. Rousseau oder Franklin: Ihre Haltung zum Leben unterscheidet sich derart, dass sie sich unter einem Buchdeckel nicht vereinbaren lassen.
Memoirs und der Zeitgeist: Eine Liebesgeschichte
Nicht so sehr, welche Memoirs geschrieben werden, doch welche veröffentlicht und letztlich erfolgreich werden, hängt stark vom jeweiligen Zeitgeist ab. Dafür hat Yagoda zahlreiche historische Beispiele. Umgekehrt versuchen die Verfasser von Erinnerungen auch oft, bewusst oder unbewusst, auf den Zeitgeist einzuwirken. Hier zwei besonders interessante Fälle dieses Zusammenhangs. Autobiografisches Schreiben heißt oft: Schreiben am Puls der Zeit.
Progressive Memoristen
Im Amerika nach der letzten Jahrhundertwende erschienen Memoirs zum Zweck, den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern. Damals war Amerika, trotz aller Defizite, die im Rückblick deutlich werden, sicherlich das fortschrittlichste Land der Welt. So erschienen autobiografische Bücher von Feminstinnen, Gesellschaftsreformern und natürlich von Kämpfern gegen den Rassismus.
Autobiografien wurden als eine besonders demokratische Form von Literatur verstanden, weil prinzipiell jeder sie schreiben könne. Der Herausgeber des Harper’s Magazine, William Dean Howells, forderte dazu auf, sich Autobiografien Unbekannter aus allen Teilen der Gesellschaft zu widmen. Bei denen, die tatsächlich erschienen, ging es oft um das Thema der Amerikanischen Identität. Einwanderer aus allen Herren Ländern schrieben Büchern und setzten sich mit ihrem neuen Leben auseinander.

Nostalgie
Zu anderen Zeiten waren Memoirs erfolgreich, die dem einfachen Leben huldigten. Oft ging es um die Tücken des ländlichen Raums und eine sympathische Idylle. Clarence Day schrieb eine Reihe von humorvollen Zeitungsartikeln über das Leben seiner Eltern, die er 1935 zum Buch »Life with my Father« zusammenfasste. Ein extremer Bestseller. Er fand Nachahmer im Bereich der »leichten Autobiografie«. Dieses neue Unter-Genre wurde umso erfolgreicher, je schwieriger die Zeiten wurden.
Ein Beispiel kommt mir in den Sinn, das Yagoda nicht nennt. Marcel Pagnols extrem erfolgreiche autobiografische Trilogie »Souvenirs d’enfance« (deutscher Titel: Eine Kindheit in der Provence), die er 1957 bis 1959 veröffentlichte. Auch Pagnol schreibt sehr liebevoll über seinen (früh verstorbenen) Vater (der erste Band heißt: »Der Ruhm meines Vaters«) und feiert das Ferienleben in der Provence. Eine Nostalgie, der sich ganz Frankreich hingeben kann (und soll: sie wurden zur Schullektüre).
Der Kreis erweitert sich
Yagoda macht klar, wie sich die Vorstellungen darüber geändert haben, welche Lebensgeschichten jeweils für »wert« erachtet werden, geschrieben und noch wichtiger: publiziert zu werden. Gradmesser dafür sind für ihn die Erfolge bei Kritikern und, noch wichtiger, die tatsächlichen Verkaufszahlen. Im Ganzen hat sich der Kreis der für Memoirs und Autobiografien »geeigneten« Personen stetig erweitert, auch wenn es nach besonders Memoir-hungrigen Zeiten oft auch rückläufige Phasen gab. Der gegenwärtige autobiografische Boom ist also kein vorübergehender Trend.
Wahrheit als Versprechen und Verpflichtung
Memory is an impression, not a transcript. Doing one’s »best« to tell »a truthful story« involves not conducting interviews or reading dusty clippings but consulting one’s heart. That is the baseline position of the modern memoir.
Yagoda: Memoir, S. 230
(Die Erinnerung ist ein Eindruck, keine Mitschrift. Das »Beste« zu tun, um »eine wahre Geschichte« zu erzählen, beinhaltet nicht, Interviews zu führen oder staubige Zeitungsausschnitte zu lesen, sondern das eigene Herz zu befragen. Das ist die Grundposition des modernen Memoirs.)
Weil sich Ich-Erzählungen prinzipiell gleich »anhören«, bleibt die Frage, ob ein bestimmter Text authentisch sei, stets aktuell. Romane in der 1. Person in einem realistischen Genre reizen dazu, die Autorin nach dem Wahrheitsgehalt zu fragen. Memoirs, die besonders gefällig zu lesen sind, geraten umgekehrt leicht in den Verdacht, zum Teil fiktional zu sein. Und das zu Recht: Unsere Erinnerung lässt viele Lücken, die das Leseerlebnis stören würden. Darum bleibt »die Wahrheit« stets ein Ziel, das sich entzieht. Für den Autor/die Autorin genauso wie für den Leser.
Der alte (aber nicht immer ehrwürdige) Beruf des Ghostwriters
Noch eine letzte Bemerkung: Als Biograf und Ghostwriter fand ich es besonders spannend zu lesen, wie alt dieses »Gewerbe« offensichtlich ist. Sobald das Publikum Geschmack an selbst erlebten Abenteuer-Geschichten gefunden hatte, fanden sich Journalisten, die bereit waren, geeignete Lebensgeschichten auszuformulieren. Yagoda erwähnt etwa »Schreiberlinge« die sich der Bekenntnisse verurteilter Straftäter annahmen. (S. 77f.)

Spätestens mit dem Genre der »Celebrity Autobiography« schlug dann die Stunde der Ghostwriter. Prominente und Hollywood-Stars wie Charlie Chaplin diktierten ihre Geschichten. Einige davon gaben offen zu, wer ihnen beim Verfassen des Buchs geholfen hatte. Manchmal vielleicht, um dem wachsenden Skeptizismus des Publikums vorauszueilen.
Sobald die Profession der Ghostwriter bekannt wurde, gab es auch Autoren, die ihre Ehre darin sahen, ohne fremde Hilfe zurechtzukommen. Manchen gelang das erstaunlich gut, wie etwa Charles Lindbergh, dem Atlantiküberquerer, der nach seinem Flug nur drei Wochen brauchte, um seine Geschichte zu Papier zu bringen. Die Vorschläge eines engagierten Ghostwriters hatte er zuvor abgelehnt. Das Manuskript, das der Verlag ihm vorlegte, klinge nicht nach ihm, fand er. Doch die Zeit drängte. Als Lindbergh seinen Schreibmarathon bewältigt hatte, warb der Verlag damit, dass dieses Buch nicht »ghostgewritet« sei und erzielte damit ordentliche Umsätze.
Später behaupteten noch viele Prominente ausdrücklich, ihre Autobiografie alleine und ohne Ghostwriter geschrieben zu haben, darunter — man kann es ahnen — Donald Trump.
Ben Yagoda:
Memoir. A History.
Riverhead Books, New York 2009.
ISBN 978-1-59448-886-3
2 Antworten zu “Ben Yagoda: Memoir. A History”
Danke für den sehr spannenden Artikel, den ich erst jetzt entdeckt habe
Hoch interessanter Artikel, der den oft nur hauchdünnen Unterschied zwischen Memoir und Autobiographie fein herausarbeitet.