Berthilde Enders wurde 1946 in Wicker geboren, das seit 1971 zu Flörsheim am Main gehört. Dort lebt sie noch heute. Sie arbeitete als Pfarrsekretärin und Religionslehrerin und engagiert sich seit 1977 lokalpolitisch in der CDU und in vielen ehrenamtlichen Initiativen, unter anderem für Kinder aus Tschernobyl nach der Reaktorkatastrophe. Dafür bekam sie das Bundesverdienstkreuz und mehrere andere öffentliche Auszeichungen. Für sich und ihre Familie schrieb Berthilde Enders ihr autobiografisches Buch »Mein Leben mit vier Männern«, das nicht weniger als 460 Seiten umfasst und Anfang 2018 fertig wurde.
»Eigentlich könnte es jeder«
Stefan Kappner: Liebe Frau Enders, wann haben Sie begonnen, an Ihrem Buch zu schreiben?
Berthilde Enders: Angefangen habe ich schon 2004. In diesem Jahr wurde mein Mann wegen Darmkrebs operiert, das nahm ich als Zeichen: »Jetzt musst du anfangen zu schreiben!« Außerdem trugen wir eine meiner Schwestern zu Grabe. Beides Einschnitte, die mich ans Schreiben erinnerten.
Nun saß ich ständig am Computer. Mein Sohn wollte mir helfen und mir ein Programm einrichten. Er schlug vor, die Bilder erst später ins Buch zu integrieren, aber ich wollte sie genau dort einfügen, wo sie zum Text passen.
Der Wickerer Lokalhistoriker Karl Heinz Schenk schrieb gerade an seinem Buch über mein Heimatdorf: »Wicker – Tor zum Rheingau«, das 2010 erschien. Er überließ mir seine Word-Vorlage und zeigte mir, wie ich mit den Bildern umgehen konnte. Den Rest machte ich alleine. So ist es auch wirklich von mir!
Leider konnte mein Mann es nicht mehr lesen. Er fragte immer danach, aber ich sagte: »Warte doch, bis es fertig ist!« Dann starb er und erlebte das Buch nicht mehr.
Ich machte es auch erst richtig fertig, als er gestorben war. Nach seinem Tod war ich wie besessen, und habe mich jede freie Minute drangesetzt. Dann hatte ich Angst, ich würde vielleicht auch die Augen zumachen und hätte es vorher nicht fertig gemacht.
Einem guten Bekannten, der in Flörsheim eine Druckerei besitzt, habe ich die Datei schließlich anvertraut. Bei einer Auflage von 20 Stück, für jedes Kind und jedes Enkelkind, farbig, auf gutem Papier und fest gebunden, war das Drucken nicht ganz billig. Doch das war es mir wert, nach all der Arbeit.
Jetzt bin ich froh, dass es vollbracht ist. Ich habe es geschafft!
Manche sagen zu mir: »So etwas könnte ich nicht.« Aber eigentlich könnte es jeder. Man muss nur dransetzen. Es ist halt Arbeit.
2009 waren Sie in eine meiner Veranstaltungen gekommen.
Ja, zuerst in Hofheim und 2010 im Wilhelm-Kempf-Haus in Wiesbaden. Und Sie sagten: »Schreiben Sie Geschichten!« Das habe ich mir zu Herzen genommen. Darum ist es nicht nur eine chronologische Aufzeichnung geworden, geordnet nach Jahren, sondern es finden sich auch einige Geschichten in dem Buch.
Ich kann mich an eine Geschichte erinnern, die Sie bei mir geschrieben haben. Sie handelt von Schokolade. Um der süßen Versuchung nicht allzu häufig nachzugehen, lagern Sie sie in einem schlecht zugänglichen Schrank, der auch noch eine laute Tür hat, nicht wahr? Mit einer Klingel?
Nein, einem Magnetverschluss, der jedes Mal laut knackt, wenn man ihn öffnet. Und immer, wenn ich dran gehe, … ach, das wissen Sie noch? Diese Geschichte findet sich auch im Buch!
Sie haben die Geschichten kursiv gesetzt?
Ja, genau. So kann man sie gut im Rest des Textes finden. Ich verwende auch viel wörtliche Rede, oft im Dialekt. Die Eltern sprachen früher ja fast nur Dialekt. Ich gehöre zur ersten Generation, die versucht hat, mit den Kindern hochdeutsch zu reden, damit sie keine Probleme in der Schule haben.
Hatten Sie selbst Probleme wegen Ihres hessischen Dialekts?
Nein, aber es kam vor, dass ich zur Lehrerin und sagte: »Fräulein, ich habe hier ein Knüpfel im Garn.«
»Aber Berthilde, das heißt doch Knoten!«
Zuhause war es ein »Knibbl«, also habe ich versucht, es irgendwie »hochteutsch« klingen zu lassen – so wurde es ein »Knüpfel«.

Ureinwohnerin
Eine Besonderheit ihrer Biografie ist es, dass Sie Ihr ganzes Leben lang im selben Haus gewohnt haben.
Ich bin eine Ureinwohnerin. Auch meine Eltern stammen beide aus Wicker. Hier bin ich auch geboren, sogar in diesem Zimmer, in dem wir gerade sitzen.
Viele Geschichten sind eng mit diesem Haus und dieser Straße verbunden. Ich kann mich erinnern, dass Sie im Schreibkurs aus dem Gedächtnis alle Nachbarn von früher und heute aufzählen konnten.
Wir sind auch mit halb Wicker verwandt. So wie es früher eben war, als man noch kaum aus dem Ort herauskam. Meine Kinder fragten mich oft: »Wie sind wir denn mit ihnen verwandt?« Also schlug ich nach und führte detailliert auf, wer wie viele Kinder hatte, wo die jeweiligen Familien früher wohnten, wo sie heute wohnen und so weiter. So findet sich im Buch auch 70 Jahre Ortsgeschichte.
Überhaupt interessiert mich die Geschichte.
Wenn ich noch einmal auf die Welt käme, würde ich Archäologin werden. Ich wühle gerne in dem alten Kram.
Was hat Ihnen beim Schreiben am meisten Spaß gemacht?
Die Geschichten machen Spaß. Weil man sich dabei auch ein wenig mehr trauen kann, etwas ausschmücken oder aus der bloßen Erinnerung schreiben, die sich nicht nachprüfen lässt. Besonders viel Freude haben mir aber auch die Fotos bereitet. Ich bin ein sehr visueller Mensch, und muss alles vor mir sehen. Darum wollte ich Text und Bilder auch nicht trennen und auf verschiedenen Seiten verteilen, wie mein Sohn es vorschlug. Nein, die Bilder mussten gut platziert werden, und wo im umliegenden Text auf das Bild verwiesen wird, steht die Schrift ebenfalls kursiv. So lässt sich der Zusammenhang zwischen Text und Bild leichter herstellen.
Stammen alle Bilder des Buchs aus Familienbestand?
Manche habe ich auch im Ort gesammelt, gescannt und zurückgegeben.
Waren Sie auch in Archiven?
Nein, nur bei Privatleuten.
Was ist Ihnen schwer gefallen?
Nun, es gab Dinge, die ich ungern beschrieben habe, den Tod meines Vaters zum Beispiel. Da schrieb ich alles aus dem Gedächtnis nieder und musste fürchterlich weinen. Das ist kein Wunder: Mein Vater starb 1956, als ich erst zehn Jahre alt war, innerhalb von vier Tagen, und hinterließ einen bäuerlichen Hof, ohne für einen solchen Fall vorgesorgt zu haben. Das war ein großer Einschnitt. Im Nachhinein denke ich, dass ich ein ganz anderer Mensch geworden wäre, wenn ich diesen Schicksalsschlag nicht erlitten hätte.
Seither war ich mit meiner Mutter allein, die ohnehin schon sehr auf mich fixiert gewesen war. Dass sie mich ganz für sich einnehmen wollte, hat mir das Leben schwer gemacht. Das sah ich erst im Rückblick. Beim Schreiben erst merkte ich, wie dominierend die Mutter war, aber auch – was ich ihr zu Gute halten muss – dass sie die Fäden in der Hand behalten musste. Den Bauernbetrieb löste sie auf und musste ihre drei Mädchen ohne Rente durchbringen. Dabei hatte sie sich in den Kopf gesetzt, dass wir die gleiche Aussteuer nötig hätten wie andere. Jedes Mal, wenn ein Stück Vieh verkauft wurde, legte sie einen Teil des Geldes in Aussteuer für uns an, da war sie sehr eigen. Weiße gestärkte Wäsche.
Zeiten und Bräuche ändern sich
Und nach dem Tod unseres Vaters mussten wir ein Jahr lang in schwarz gehen. Der Sommer war heiß, doch wenn wir ohne Strümpfe gingen, betrachteten uns die Leute schon von der Seite: Die hat doch schwarze Strümpfe anzuziehen. Solche Dinge gibt es heute nicht mehr.
In diesen siebzig Jahren, die ich in meinem Buch verarbeitet habe, veränderte sich wirklich die ganze Gesellschaft. Früher hieß es zum Beispiel immer »Die Fastnacht muss sauber bleiben«, und heute geht es sehr freizügig zu, fast schon ordinär. Diese Veränderung gefällt mir nicht. Was andererseits den Umgang mit Homosexuellen angeht, hat sich viel verbessert. Ein schwuler Bürgermeister wurde nicht toleriert. Auch diese Veränderung spielt in meinem Buch eine Rolle.
Die öffentliche Moral war eine völlig andere.
Und die soziale Kontrolle noch lückenlos. Wenn jemand sonntags nicht in der Kirche war, hieß es: »Was ist mit dem? Ist der krank?«
Lag auch ein Vorteil darin, das man bemerkt wurde und nicht anonym blieb?
Klar, die Dorfgemeinschaft war ganz klein. Wenn mein Vater sonntags mit den anderen Bauern aus der Kirche kam, machten sie bei jedem Halt, hielten noch ein Schwätzchen – »Was machst du die Woche?«
So war das. Eine schöne Gemeinschaft.
Ich schrieb auch darüber, welche Rolle der Wein in Wicker spielte, das ja als »Tor zum Rheingau« gilt. Jeder Bauer hatte auch seinen »Wingert«. Es gab den »allgemeinen Herbst«, das war ein Tag, an dem alle Tore aufgingen, die Glocken läuteten und alle gemeinsam in die Weinberge fuhren. Das war so schön!
Nicht für die Öffentlichkeit
Stimmt es, dass das Buch ganz in der Familie bleibt, obwohl Sie in Flörsheim-Wicker als bekannte Persönlichkeit gelten können?
Ja, denn darin stehen manche Dinge, die ich nicht gerne preisgeben würde. Es geht zum Beispiel um einen unschönen Konflikt, der mit meiner Arbeit als Pfarrsekretärin und auch mit meinem Engagement als Gemeinderätin zu tun hatte. Um eine Anfeindung, die mir weh tat, deren Urheber ich aber nicht öffentlich machen möchte. Im Buch nenne ich ja alle und alles beim Namen.
Die Verwandtschaft lasse ich schon einmal hineinschauen, damit sie lesen können, was über sie drinsteht. Doch ich gebe es nicht aus der Hand.
Mein Sohn hat auch schon viel gelesen, und gesagt: »Das ist halt deine Sicht der Dinge.« Er hat auf manches eine andere Sicht, die kann er ja gerne haben.
Und wenn ich mal nicht mehr bin, können es die Kinder dem historischen Verein überlassen.
Als Karl Heinz Schenk ein Büchlein über den Wein schrieb und herausgab, stellte ich ihm einen Auszug zur Verfügung: »Ist das Jahr gut, ist auch der Wein gut.« Darin beschreibe ich, wie mein Vater den Wein machte.
Chronik, Jahresbriefe und Jahrbücher
Ihr Buch ist zugleich Chronik und Geschichtensammlung. Wie weit gehen Sie in der Zeit zurück?
Das älteste Foto zeigt meine Urgroßmutter, ungefähr von 1850. Damit habe ich begonnen.
Griffen Sie auf Tagebücher zurück oder auf andere Aufzeichnungen?
Ja, seit 1960 führe ich Terminbücher, die ich auch noch alle habe. Dort habe ich vieles nachschauen können. Das war eine große Hilfe.
Wenn Sie am Ende jedes Jahres einen Abschnitt der Chronik geschrieben hätte, dann hätten Sie am Ende nur noch die Geschichten hinzufügen müssen.
Das mache ich jetzt, jedes Jahr zu Weihnachten, für meine Kinder. Ich schreibe Ihnen einen Brief, in dem ich das Jahr Revue passieren lasse, die wichtigsten Ereignisse, unsere Urlaube. Die lassen sich aneinander reihen.
Jahresbriefe, schön.
Außerdem habe ich für jedes Enkelkind ein Jahrbuch angelegt. An jedem Geburtstag schreibe ich ihnen, was ich übers Jahr mit ihnen erlebt habe und was in der Familie passiert ist. Und klebe Fotos dazu. Bei neun Enkeln ist das inzwischen auch schon gehörig viel Arbeit. Meine älteste Enkelin ist inzwischen zwanzig Jahre alt und sagt: »Ich freue mich jedes Jahr auf das Buch.« Sie war ein Jahr lang in Kamerun, für ihr Freiwilliges Soziales Jahr, und nahm ihr Jahrbuch mit. »Ich habe es schon so oft gelesen. Ich werde es nicht müde«, erzählt sie. Jedesmal, wenn ein neues Enkelkind geboren wurde, habe ich mir eine Kladde gekauft und angefangen. Bei ihr wird es allmählich voll: »Aber du kannst jetzt nicht damit aufhören, mir zu schreiben!«, sagt sie.
Gibt es jemanden in der Familie, der diese Schreibkultur aufgenommen hat und fortführt?
Ja, gerade auch die Älteste. Sie macht sich viele Gedanken und schreibt sie auch nieder. Ich denke, das geht da weiter.
Berthilde Enders, vielen Dank für Ihren anregenden Werkstattbericht!