Wer über das eigene Leben schreibt, verbindet Erinnern und Tun. Aus den Schätzen, die das Gedächtnis bietet, werden schreibend Sätze geformt, Geschichten und Kapitel. Sie (oder er) wählt aus, stellt Zusammenhänge her oder stellt sie in Frage, ordnet, wertet, spinnt den Faden einer Erzählung. So wie es auch Romanschriftsteller tun. Nur dass es sich bei der Hauptfigur, von der erzählt wird, um die Schreibende selbst handelt. Wer biografisch schreibt, kann die Freiheit nutzen, die das Erzählen bietet, um das eigene Leben und die eigene Identität neu zu begreifen und zu fassen. Im Folgenden gehe ich auf verschiedene Aspekte des biografischen Schreibens ein, vergleiche es mit dem mündlichen Erzählen und setzte es in Bezug zu therapeutischen Methoden. Ich möchte verständlich machen, weshalb ich biografisches Schreiben für eine in jeder Hinsicht sinnvolle, in vielen Fällen auch heilsame Tätigkeit halte.
Biografiearbeit, Lebensrückblick, biografisches Schreiben
Worauf es mir ankommt, ist die Kraft des biografischen Schreibens für die Schreibenden selbst. Man könnte auch sagen, dass es um den Selbsterfahrungsaspekt des Schreibens geht. Technische oder handwerkliche Fragen in Bezug auf das Schreiben, Fragen der Veröffentlichung und solche in Bezug auf den Leser treten dabei in den Hintergrund. Ich fasse sie unter dem Stichwort »ergebnisorientiert« zusammen. Denn es sind Fragen, die sich auf die Qualität des Schreibergebnisses beziehen, also auf die autobiografische Erzählung oder die komplette Autobiografie, die möglicherweise am Ende eines langen Schreibprozesses steht. Ergebnis-Fragen haben mit Maßstäben zu tun, mit dem Vergleichen, darum führen sie weg vom Selbst der Schreibenden.
Bleibt man dagegen beim »prozessorientierten« Pol des biografischen Schreibens, erkennt man es als eine Methode der Biografiearbeit, das heißt als eine Art und Weise, sich konstruktiv mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen.
Es geht um einen Lebensrückblick, der nicht von äußeren Interessen – auch nicht der Kinder oder Enkel – motiviert ist, sondern von der Selbst-Sorge, die (wie die Biografiearbeit insgesamt) auch der Zukunft dient. Es tut gut, von schönen Dingen in der Vergangenheit zu schreiben, sie in der Gegenwart noch einmal zu durchleben und festzuhalten. Vor allem in Krisensituationen ist es wichtig, sich der eigenen Identität zu versichern, zu merken, dass man auf dem »richtigen Dampfer« ist. So bringt biografisches Schreiben alle drei Zeitperspektiven zusammen und kann auch therapeutisches Potential entwickeln. Es kann die eigenen Gefühle und Überzeugungen auf heilsame Weise korrigieren.
Schreiben und Erzählen
Was wir ohnehin ständig tun, ist erzählen. Ob Alltagsgeplauder oder vertrauensvolles Gespräch unter Freunden: Immer erzählen wir Geschichten, mit denen wir uns unterhalten, uns gegenseitig vorstellen und Erfahrungen austauschen. Mehr oder weniger unbewusst vermitteln wir dabei auch ein Bild von uns selbst. Es wirkt nach außen, aber ebenso zurück auf uns als Erzähler oder Erzählerin.
Die ideale Konstellation für das Erzählen ist der Kreis: Rundum wird erzählt, alle sind gleichberechtigt, jedem wird zugehört. Die Geschichten befruchten sich gegenseitig. Wenn wir so zusammensitzen und erzählen, geschieht sehr viel gleichzeitig. Wir hören zu, werden dabei an eigene Erlebnisse erinnert, fassen diese in Worte und achten dabei auf die Reaktionen der anderen. Die Form unserer Geschichten haben wir erlernt, wir können sie dem Anlass anpassen. In Bezug auf Inhalt, Länge, Art des Aufbaus, Sprachniveau.
Es tut gut, wenn wir eine positive Rückmeldung erhalten, Kopfnicken, Bestätigung, die passende Reaktion. Das tut gut. Oder eine Nachfrage bringt uns weiter, lässt das Erzählte plötzlich in einem neuen Licht erscheinen. In der Folge verändern sich die Geschichten, die wir erzählen, oder sie bleiben festgefügt, werden immer wieder auf dieselbe Weise erzählt, weil sie besonders gut ankamen oder einfach gut passen. Mit Geschichten drücken wir aus, wer wir sind, unsere »narrative Identität« (von »Narration« = »Erzählung«), sie bilden das Gerüst unseres Selbst. (Vgl. Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung, Band 1: Zeit und historische Erzählung, München 1988.)
Im Erzählkreis, in Zweiergesprächen und vielen anderen Situationen formen wir über die Jahre ein Bild von uns selbst und unserer Biografie. Das passiert meistens unbewusst. Oftmals wissen wir im Moment noch nicht, was wir gleich erzählen werden. Erinnern, zuhören, sprechen wirken unkontrollierbar ineinander.

Vom Erzählen zum Schreiben
Biografisches Schreiben lässt alle Aspekte des mündlichen Erzählens erkennen, nur dass sie hier zeitlich und räumlich voneinander getrennt sind. Wer »schreibend erzählt«, kann sich von Erinnerungen leiten lassen, die im Alltagsgespräch kaum zur Sprache kommen. Er kann sie bewusster auswählen und sich ihnen vertiefend zuwenden, ohne auf die Bedürfnisse seiner Zuhörer Rücksicht nehmen zu müssen. Papier ist geduldig – und doch bildet es ein Gegenüber. Wie beim mündlichen Erzählen sind die Gedanken und Gefühle nicht einfach da, bevor sie aufgeschrieben werden. Sie entstehen erst beim Schreiben, so wie Gedanken oft auch erst beim Reden entstehen.
Das Medium der Schrift ermöglicht ein Selbst-Gespräch, das sich mit dem Gespräch zwischen wohlwollenden Gesprächspartnern messen lassen kann. Anders als das kreisende Selbst-Gespräch des Einsamen führt das Schreiben zu neuen Gedanken, zu größerer Klarheit und hilft, bereits Gedachtes und Geschriebenes auch wieder beiseite legen zu können.
Wer mündlich erzählt, merkt dabei oft nicht genau, wie er dabei auf andere wirkt. Das Geschriebene kann zur Seite gelegt und später wieder gelesen werden. So kann der biografisch Schreibende sich von seinem eigenen Selbst-Bild distanzieren und einen besseren Überblick gewinnen über sich und seine Geschichten. Er kann die eigenen Lebenserzählungen wie einen Spiegel verwenden, in dem er sich besser erkennt.
Was beim mündlichen Erzählen die Zuhörer sind, sind beim biografischen Schreiben die Leser. Der Autor oder die Autorin von Lebenserinnerungen kann entscheiden, ob und wen er sie lesen lässt, ob er sie gar veröffentlicht. Er kann auch Feedback einholen, Kommentare einfordern, und sich dafür genau die Menschen aussuchen, die er möchte. Diesseits von Buchveröffentlichungen ist es jederzeit möglich, das Geschriebene zu korrigieren. Die Fest-Schreibung, die die Veröffentlichung autobiografischer Texte bedeutet, kann von der Autorin oder dem Autor gesucht oder sie kann vermieden werden, je nachdem, worauf es ihr beim Schreiben ankommt. Auch das Führen eines Tagebuchs, von dem niemand etwas erfährt, gehört ins Spektrum des biografischen Schreibens.
Anleitung zum biografischen Schreiben
Biografisches Schreiben ermöglicht also einen bewussteren, kontrollierteren Umgang mit dem allgegenwärtigen und mächtigen Phänomen des Erzählens.
Anders als das mündliche Erzählen lernen wir es jedoch nicht von frühen Kindesbeinen an. Darum ist es in vielen Fällen sinnvoll, das biografische Schreiben in Kursen, Seminaren oder im gegenseitigen Austausch einzuüben. Vor allem der Ablauf Schreibimpuls – Schreibzeit – Vorlesen – Feedback hilft den Teilnehmern, sich die notwendige Zeit für das Schreiben zu nehmen und sich gegenseitig zu ermutigen. Für den Selbsterfahrungsaspekt ist es besonders wichtig, dem kreativen Schreiben gegenüber den technisch-handwerklichen Aspekten genügend Raum zu verschaffen. Hier helfen zum Beispiel spielerische Impulse, die Technik des »automatischen Schreibens«, »Morgenseiten« nach Julia Cameron, Clustering.
Unter den Methoden der Biografiearbeit bevorzugen dennoch manche eher gestalterische Techniken, manch andere das bloße Erzählen. »Schreiben« ist oftmals durch schulische Erfahrungen belastet, sodass es zu Blockaden kommen kann und man zusätzliche Überzeugungsarbeit leisten muss. Sind die ersten Hemmungen jedoch abgelegt (ist klargeworden, dass es kein »Richtig« oder »Falsch« geben kann), können die Vorteile des Schreibens greifen.
Wenn aus Texten, die in Schreib-Workshops oder in der Folge von Seminaren entstanden sind, kleine »Werke« entstehen, Hefte oder Anthologien, sind die Beteiligten oft ganz besonders stolz. Sie spüren die Wertschätzung, die ihren Lebenserinnerungen und damit ihnen selbst entgegengebracht wird, und haben sich zugleich ihrer Fähigkeit versichert, angemessen mit ihnen umzugehen.
Maria Adler, eine Teilnehmerin aus vielen meiner Schreibseminare, brachte es so auf den Punkt:
Ein Beispiel
In der Nachkriegszeit war es nicht unbedingt üblich, dass Frauen selbstbestimmt lebten und selbstbewusst von sich erzählten. Als Schwester Leokadia bereits hochbetagt ins Bildungshaus ihres Ordens, gleich neben dem Schwesternhaus, herüberkam, um an meinem Schreibseminar teilzunehmen, merkte ich schnell, dass das Tempo der Gruppe etwas zu flott für sie war. Sie schaffte nur wenige Zeilen, und schon begann die erste Leserunde. Doch diese Zeilen und die Einblicke in ihr Leben, mit denen sie sie mündlich ergänzte, wurden von der Gruppe aufmerksam und ermutigend aufgenommen. Man merkte, wie gern sie auch einmal von sich erzählte und dass sie dieses Erzählen — als Nonne zur Demut und Selbstlosigkeit erzogen — jahrzehntelang kaum geübt hatte.
Das letzte Thema das Tages hieß »Mein Schreibplan«: Schwester Leokadia überlegte sogleich, wie es für sie weitergehen könnte, wer ihr vor allem dabei helfen könnte, das in zwar langsamer, aber gut leserlicher Handschrift Festgehaltene in den Computer zu übertragen.
Zu anderen Seminarorten konnte mit die von Diabetes geplagte Ordensschwester nicht folgen. Sie wartete bis ich gut zwei Jahre später wieder in ihre Nachbarschaft kam. Jetzt schrieb sie einen Reisebericht und ich erinnere mich, wie die Teilnehmer und ich sie darin bestärkten, doch neben den Eckdaten der Reise auch ihre ganz persönlichen Eindrücke wiederzugeben. Dieser Bericht findet sich nun in einer 60-seitigen Broschüre, die mir Schwester Leokadia einige Monate nach diesem zweiten Zusammentreffen nach Hause schickte: Ihr Lebensbuch, auch mit sehr persönlichen Abschnitten, die zu veröffentlichen ihr vermutlich nicht leicht gefallen sind.
Ich staune noch jetzt über die Energie und Ausdauer, mit der diese doch schon recht gebrechliche Dame ihr Ziel verfolgte — und erahne, dass es eine Befreiung für sie war, sich trotz und neben der ihr gebotenen Demut und Bescheidenheit auch einmal selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Biografisches Schreiben ermöglichte es ihr, sich die Kräfte dafür einzuteilen.
(Über Schwester Leokadia berichte ich etwas ausführlicher in Stefan Kappner: Schreibend erzählen. Biografiearbeit mit Senioren und Demenzkranken, Verlag an der Ruhr, Mülheim 2015, S. 21.

Biografisches Schreiben und Psychotherapie
Die Ärztin, Journalistin und Poesietherapeutin Silke Heimes hat zusammengetragen, in welchen Bereichen die psychologische Wirksamkeit des Schreibens wissenschaftlich überzeugend nachgewiesen wurde. (Vgl. Silke Heimes: Warum Schreiben hilft. Die Wirksamkeitsnachweise zur Poesietherapie, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2012.)
Wie in der Psychologie und Psychotherapie insgesamt sind solche Nachweise schwer zu führen, da sie hohe Fallzahlen für die statistische Auswertung verlangen und der persönlichen Erfahrung des Einzelnen verhältnismäßig wenig Raum beimessen können. Obwohl die Forschung dazu noch in den Kinderschuhen steckt, kann sie bereits dutzende Studien zur Verbesserung der Emotionsregulation, der Selbstwirksamkeit und der sozialen Integration zitieren.
Von »therapeutischem Schreiben« im engeren Sinn spricht man dort, wo das Schreiben in ein therapeutisches Umfeld eingebettet ist. Ausgebildete Psychotherapeuten begleiten es, die in der Lage sind, bei Schwierigkeiten und kritische Situationen in angemessener und kompetenter Weise zu intervenieren.
Diesseits des ausdrücklichen Therapie-Anspruchs erlebe ich die »Heilkraft« des biografischen Schreibens in vielen Seminaren und in der Schreibberatung. Wie das Schreiben über einen verstorbenen Partner die Trauerarbeit unterstützt; wie Teilnehmer aufblühen, wenn sie über vergangene Erfolge schreiben (und die Texte vorlesen), und daraus Selbstvertrauen für die Zukunft gewinnen; wie sie Vergessenes überrascht wiederentdecken; wie sie liebevoll das Kind beschreiben, das sie einmal waren; wie gut es tut, gründlich Bilanz zu ziehen.
Im Schreiben – sofern nicht nur das »korrekte«, nach festen Formen ablaufende Berichten gemeint ist, sondern das Schreiben als kreative Tätigkeit – kommen unbewusste Anteile zum Ausdruck. Das gilt umso mehr, je stärker die Schreibenden gelernt haben, den »inneren Zensor« auszuschalten oder zu umgehen. Hier liegt die größte Chance im biografischen Schreiben, sofern es seine Erfüllung nicht in der Produktion eines Textes, etwa einer Autobiografie, sieht, sondern in dem kreativen Prozess, der das eigene Leben und die eigene Herkunft bewusst in den Mittelpunkt stellt.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Herrad Schenk, Schriftstellerin und Schreiblehrerin, beschreibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Schreiben über sich selbst und einer Psychoanalyse:
Herrad Schenk: Die Heilkraft des Schreibens. Wie man vom eigenen Leben erzählt, Verlag C.H.Beck, München 2009, S. 186ff.
Biografisches Schreiben und Familiengeschichte
Wer ein Genogramm erstellt, einen mit Symbolen angereicherten Stammbaum, schafft sich einen Überblick über die eigene Familiengeschichte. In den Symbolen verstecken sich Informationen über Beziehungen, Krankheiten oder biografische Brüche. So lassen sich Muster entdecken oder blinde Flecken ausfindig machen. Die Alltagsperspektive auf das eigene Leben wird erweitert, festgefahrene Deutungsmuster aufgebrochen. Das Bewusstmachen des Familiensystems liefert neue Chancen für die eigene Entwicklung.
Ein Genogramm erlaubt es also, die eigene Geschichte zum Teil neu zu erzählen. Doch es genügt nicht, in dieser Möglichkeit, dieser Überblicksperspektive zu verharren. Die neuen Geschichten müssen auch wirklich erzählt werden – und es bietet sich an, sie auch aufzuschreiben. Biografisches Schreiben kann die neuen Gedanken über das eigene Leben klären, dort können sie sich konsolidieren. Überraschende Einsichten können im Schreiben nach und nach bewusst gemacht und mit den Lebenserzählungen verknüpft werden. Im Schreiben kann sich erweisen, ob neue Deutungen tragen oder doch nicht das sind, wonach man gesucht hat. Dabei geht es nicht um logische Schlussfolgerungen, sondern um stimmige und wohltuende Geschichten.
Verena Kast: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben. Die Kraft des Lebensrückblicks, Kreuz Verlag, Freiburg im Breisgau 2010.
Schreiben Sie wohl!
Ihr
Stefan Kappner