1935 hatte Maxim Gorki die Idee, alle Schriftsteller der Welt einen bestimmten Tag beschreiben zu lassen (zufälliger Weise war es der 27. September), um so gemeinsam eine Momentaufnahme der Weltgeschichte zu leisten. Welt-Literatur kam dabei nicht heraus, auf die Schnelle fand ich im Internet auch keinen Hinweis darauf, wie viele sich seiner Idee anschlossen. 1960 jedenfalls wiederholte die Zeitschrift “Iswestija” den Aufruf, Christa Wolf las ihn und beschrieb ihren persönlichen 27. September 1960. Fasziniert vom Format, dieser besonderen Art des Tage-Buchs, machte sich Wolf das Projekt dann zu eigen, indem Sie fortan jeden 27. September beschrieb, den sie bis zu ihrem Tod erleben sollte. Aus der Idee einer weltumspannenden Beschreibung wurde ein zeitumspannendes Werk.
2003 fasste Christa Wolf die ersten vierzig Tagesaufzeichnungen, 1960 bis 2000, zusammen und gab sie als Buch heraus, sie folgte wohl der Magie der Zahlen (der 2000, aber auch der 40, der biblischen Zahl der Vollkommenheit, die oft wichtige Zeitabschnitte umschreibt). Posthum veröffentlichte ihr Mann Gerhard Wolf die letzten Jahre.
Der erste Eintrag unterscheidet sich noch wenig von einem Tagebucheintrag, nur dass sie auf kein Gestern und Vorgestern zurückgreift, also alle Zusammenhänge eigenständig darstellt, so dass der Tag für sich stehen kann. »Im Grunde könnte man aus jedem Tag eine Erzählung machen«, sagte sie in einem Spiegel-Interview. Sie sieht sich auch zu größerer Ausführlichkeit aufgerufen, pickt nicht das vermeintlich Wichtigste heraus, wie man es in Tagebuch-Einträgen oder noch kürzeren Kalender-Einträgen tut. Gerade dieser Verzicht, auszuwählen, macht die Tages-Erzählungen reich, so dass der heutige Leser nicht den Wertigkeiten folgen muss, die 1960, 1961 und so weiter galten, sondern »hingreifen« kann, wo er möchte.
Im zweiten Jahr beschreibt Wolf, warum Sie weitermacht, und motiviert sich damit selbst. Denn natürlich ist so eine Tagesbeschreibung anstrengend, sie muss dem eilenden Leben abgerungen werden:
Gestern, als eigentlich der »Tag des Jahres« sein sollte — eine Tradition, die ich doch anfangen möchte — habe ich den ganzen Tag über nicht daran gedacht, erst heute früh, beim Erwachen, fiel es mir ein, kein lustvoller Einfall, ich spürte Unlust, mich pflichtgemäß schreibend an gestern zu erinnern. In älteren Tagebüchern blätternd, sah ich wieder, was alles man vergißt, wenn man es nicht aufschreibt: Fast alles. Besonders die wichtigen Kleinigkeiten. Also aufschreiben. Und zugleich ein Test, was ich vom gestrigen Tag noch weiß, was ich aus der schnell verblassenden Erinnerung festhalten, »retten« kann. Und die Frage wegschieben: Wozu retten? Was ist denn wichtig an einem durchschnittlichen Tag in einem durchschnittlichen Leben? Was bringt mich dazu, die früh eingeprägte Mahnung: Nimm dich doch nicht so wichtig! zu mißachten? Selbstüberhebung? Aber ist Selbstüberhebung, sich wichtig nehmen, nicht die Wurzel allen Schreibens? (S. 25)
Von Anfang geht es also um das »Retten der Erinnerung«. Fast alles vergisst man. Und weil man nicht das gesamte Leben mitschreiben kann, auch nicht in einem Tagebuch, tut es Christa Wolf exemplarisch, sie nimmt Lebens-Stichproben. Wie schwierig selbst das mitunter werden kann, zeigt sich darin, dass keineswegs alle Tages-Erzählungen am Stichtag geschrieben wurden. Vor allem zu Beginn des Projekts, so lange der Gewinn der Langzeitverpflichtung noch unklar war, versäumt sie auch Tage: 1964 schreibt sie erst am 1. Oktober, 1968 erst am 30. Oktober:
Vorher fünf Wochen in Mahlow, im Waldkrankenhaus. Eine wiederholte Erfahrung: Im Krankenhaus gelingt Tagebuchschreiben nicht, obwohl man da viel Zeit dazu haben sollte. Aber auch das Innenleben ist auf Schongang gestellt. Diesmal habe ich sogar den »Tag des Jahres« vergessen. Will statt dessen etwas über die ganze Zeit schreiben, fünf Wochen, […] (S. 111)
Später, als das Werk sichtbar wird, stabilisierte sich das Schreiben. Christa Wolf notierte, was Sie aß, tat, dachte, was sie las und diskutierte. Sie beschrieb Menschen und Umstände. Das Schlaglicht auf einem Tag beleuchtet dabei auch die Zeitsituation, nicht alles, was zu erzählen wäre. Doch der Verzicht darauf, allzu viele Zusammenhänge herzustellen und damit Erklärungen, wird auch zum Gewinn. Die Geschichte der DDR und ihrer Schriftsteller mag aus anderen Quellen bekannt sein. Manchmal ist es das Private, Kleine, das anrührt (»Als ich in der Küche den Vormittagstrunk mache, ihn dann heraufbringe, sehe ich durchs Fenster Otto Shomakers Braunen auf unserer Wiese grasen. Ein schönes Pferd mit glänzendem Fell, Ottos einzige Lebensfreude, die er aber leugnet: Er halte das Pferd eigentlich nur für Harmut, seinen Sohn.«). Dann wieder spannende Insider-Storys aus dem Leben der großen Schriftsteller, etwa wenn sie 1986 in Zürich mit Max Frisch über Uwe Johnson und andere spricht. Auf den 27. September 1998 fallen Bundestagswahlen. Auch solche Zufälle haben ihren Reiz, und natürlich die Frage, wie die »DDR-Schriftstellerin« die Wende erlebte und die Zeit danach.
Zuletzt zeigt eine kleine Statistik der Seitenlängen, dass Wolf ihre Aufgabe ernst nahm und sich, weder in der Kürze noch in der Länge, sehr von den Vorgabe entfernte: Die kürzesten Einträge sind 6 Seiten lang (drei Mal), der längste 26 (im Jahr 1984), dazwischen kommen vor: