Während ich an meinem Corona-Tagebuch schrieb, kam die Psychologin Caroline Roggendorf auf die Idee, ihre Familienangehörigen, Freunde, Bekannte und weitere Kreise, die das Internet zieht, zu bitten, ihre jeweilige Lebenssituation am 12. April 2020 (Ostersonntag) zu beschreiben. Aus ihrem Vorwort:
Aus dieser Idee ist nun in Windeseile ein Buch mit 83 Einzel-Berichten entstanden, das im Kölner Verlag Edition Steffan erschien.
Kollektives Tagebuch
Je länger ich mich mit dem biografischen Schreiben befasse, desto sicherer wird meine Überzeugung, dass sich die Geschichte nur mittels einer Vielzahl von Perspektiven erfassen lässt. Die Wahrnehmung und Erinnerung eines einzelnen ergibt nie ein vollständiges Bild, auch wenn er sich noch so bemüht, die vielen Schichten und Aspekte einer Wirklichkeit einzufangen. Darum besticht die Idee eines kollektiven Tagebuchs.
Ein großes Vorbild in diesem Genre ist das »Echolot« von Walter Kempowski: ein kollektives Tagebuch über die letzten Kriegsjahre, in dem Aufzeichnungen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven chronologisch zusammengestellt sind. Von Soldaten, Zivilisten, von Widerstandskämpfern, Tätern und Opfern. Unkommentiert, aber anders als hier nachträglich und bewusst kuratiert, wie in einer Ausstellung.
Ein Projekt, das verbindet
Ein (privates oder öffentliches) Tagebuch kann eine Reihe von Funktionen erfüllen: Dokumentieren, was geschehen ist, es kommentieren, es dabei verarbeiten und darüber hinausblicken. So ist es auch mit dem kollektiven Tagebuch des Ostersonntags in Corona-Zeiten. Für Roggendorf, die die Beiträge in Echtzeit erhielt, und ihre Korrespondenzpartner erfüllte es zudem eine kommunikative Funktion. Durch Schreiben und Lesen wurde die erzwungene Corona-Distanz überwunden. Und wer schrieb hatte das Gefühl, an einem Ganzen mitzuwirken. Und auch nicht allein zu sein mit seinen Sorgen.
Da die Coronazeit — Gott sei’s geklagt — noch nicht zu Ende ist, vielleicht sogar weitere Lockdowns anstehen, lese ich die Beiträge noch als zeitgenössisch und weniger mit historischem Blick. Man könnte sagen: Ich bin, was die Zukunft angeht, noch genauso ratlos wie die meisten Autor*innen. Ich stelle das Buch, wenn ich ganz durch bin, ins Regal und bin gespannt, was ich in zehn Jahren von dieser Zeit halten werde und was mich dann noch interessiert. Denn der historische Blick lässt sich nicht vorwegnehmen, er stellt sich ein.
Auszüge
Laut Untertitel stammen die 83 Berichte des Buchs »aus aller Welt» Genaugenommen sind die überwiegende Mehrzahl, nämlich 53, aus Deutschland. Acht Beiträge kommen aus dem Rest Europas, acht aus Australien, zehn aus Lateinamerika und jeweils einer aus den USA, der Türkei, Neuseeland und Myanmar. (Ich musste das beim Blättern abzählen, weil das 240-Seiten-Buch leider über kein Inhaltsverzeichnis und kein Register verfügt. Ich stürzte mich natürlich zuerst auf die »exotischen Länder« und fand große Parallelen. Hier einige Zitate, um den Charakter des Buchs deutlich und neugierig zu machen (die Autoren werden nur beim Vornamen genannt, was den informellen Charakter des Buchs noch unterstreicht):
Felix aus Myanmar, der in die Heimat grüßen lässt.
Sara, Psychologin aus Argentinien
Tilly, Ergotherapeutin aus Australien
Der Autorenanteil vom Bucherlös wird dem COVID-19 Fond von Ärzte ohne Grenzen e.V. gespendet.