Die Lebensgeschichte der Mittdreißigerin Deborah Feldman ist derzeit wohl eines der am häufigsten diskutierten autobiografischen Bücher. Auch wegen einer Verfilmung für Netflix. Als es bei Simon & Schuster in New York veröffentlicht wurde, war die Autorin erst 26 Jahre alt und sofort stadtbekannt. Denn sie erzählte, wie nur sehr wenige vor ihr, von der ultraorthodoxen jüdischen Glaubensgemeinschaft der Satmarer Chassiden, in der sie aufgewachsen war. Aus welcher Perspektive sie das tat, machte der englische Untertitel unzweifelhaft klar: »The Scandalous Rejection of My Hasidic Roots«, als Abtrünnige also.
Eine große Zahl Satmarer Chassiden lebt im New Yorker Stadtteil Williamsburg, der für seine Kunstszene bekannt ist. So auffällig die schwarz gekleideten Juden mit Schläfenlocken und Hüten im Stadtbild sind, so wenig wissen die meisten Bewohner und Touristen von der dem American Way of Life abgeneigten, verschlossenen Gemeinschaft. Der Schlüssellocheffekt war also enorm, und die Sympathien sogleich auf Seiten der Autorin.
Befreiung
Denn das Buch beschreibt eine Befreiung, ein klassisches Thema für ein Memoir (eine autobiografische Erzählung), denn Schreiben selbst ist bereits ein emanzipatorisches Tun. Indem jemand sein Leben niederschreibt, reklamiert sie oder er die Deutungshoheit über die eigene Biografie. In von Verboten, Geboten und autoritärem Denken bestimmten Gemeinschaften ist das keine Kleinigkeit, ob es sich um religiöse, nationalistische oder politische Gruppen handelt.
Einige Stichpunkte zum Leben der Autorin, bevor ich auf die aus (auto)biografischer Sicht besonders bemerkenswerten Aspekte des Buches eingehe: Feldman wuchs bei ihren Großeltern auf, weil auch ihre Mutter die Chassiden verlassen hatte und ihr Vater nicht in der Lage war, sich um sie zu kümmern. Er wird als »einfältig« beschrieben, an der Grenze zur geistigen Behinderung. Die Großeltern achten, wie auch ihre Tante Chaya, andere Verwandte und die Lehrerinnen der jüdischen Mädchenschule, auf die streng religiöse Erziehung des Mädchens. Ihre Muttersprache ist das osteuropäische Jiddisch, das die Satmarer sprechen. Die gängige amerikanische Kultur, Musik, TV und Kino werden als sündig angesehen, auch andere Freizeitbeschäftigungen und westliche Kleidung, sogar die Lektüre englischer Bücher ist verboten. Nicht einmal die Talmudübersetzung aus einer jüdischen Buchhandlung lässt ihr Großvater gelten — oder vielleicht gerade sie nicht? Schließlich kann die denkende Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe der erste Schritt zur Emanzipation sein. Eine solche Auseinandersetzung ist jedoch, wenn überhaupt, nur den Männern gestattet, und auch ihnen nur im Geiste unmündiger Gefolgschaft.
Entstehungsgeschichte
Eine Besonderheit an Feldmans Erzählung ist es, dass sie die Umstände ihrer eigenen Entstehung beschreibt. Und dass sich Feldman ohne ihre Erzählung womöglich niemals oder nur unter erheblich größeren Entbehrungen von ihren Wurzeln hätte lösen können. Das Buch ist nicht allein die Geschichte einer Befreiung, es war das Mittel dazu.
Wie also ist das Buch entstanden? Nachdem sich die Autorin durch die ersten Jahre einer in jeder Hinsicht unbefriedigenden arrangierten Ehe gequält hatte und irgendwann pflichtschuldig schwanger wurde, gelang es ihr, mit ihrem Mann Eli in die Vorstadt Airmont zu ziehen, wo etwas weniger soziale Kontrolle herrschte. Heimlich schreibt sie sich im Sarah Lawrence College für ein Literaturstudium ein. Denn Bücher waren das einzige, was sie in ihrem bisherigen Leben als befreiend erlebte. Die Kinderbücher von Roald Dahl, in denen Kinder aus schwierigen Verhältnissen schließlich eine Lösung finden. »Die Erwählten« von Chaim Potok, das die Welt, die sie kennt, literarisch verarbeitet. »Little Women« von Louisa May Alcott und »Stolz und Vorurteil« von Jane Austen, in denen es um die Lebenswege junger Mädchen und Frauen in einer männlich dominierten Gesellschaft geht. Den Kapitel von »Unorthodox« sind Zitate aus diesen Büchern vorangestellt. Nur durch die (verbotene) Lektüre war es Feldman möglich, eine eigene Vorstellung von ihrem Leben zu entwickeln. Nur wegen ihr kann sie sich für das Erwachsenenprogramm des College bewerben.
»Shtick« bedeutet auf Jiddisch so viel wie »Masche« in »das ist meine Masche«, also was man kann und draufhat, womit man sich womöglich einen Vorteil verschaffen kann. Von sich zu schreiben, war und ist Feldman Masche.
Keimzelle
Die Kontraste zwischen ihrem Leben als chassidische Ehefrau und dem College, für das sie sich umzieht, um in den Hörsälen und der Caféteria nicht aufzufallen, verstärken ihre innere Konflikte. Ermutigt durch den Erfolg ihrer Essays beginnt sie, darüber zu schreiben:
Aufgewachsen in einer Atmosphäre von sexuellen Verboten und Verschämtheiten, unaufgeklärt verheiratet, entwickelte Feldman eine psychosomatische Hemmung, die sich »Vaginismus« nennt (oder »Scheidenkrampf«) und den Geschlechtsverkehr in ihrer jungen Ehe unmöglich machte. Weil Fruchtbarkeit in der Ehe bei den Satmarern zugleich als göttliches Gebot gilt, übte man von allen Seiten und auf indiskreteste Weise Druck auf das junge Paar aus. Was die Lage nur noch verschlimmerte.
Die Schilderung dieser Episode, von der Hochzeit bis zur Schwangerschaft, die schließlich doch »gelingt«, bildet das siebte Kapitel von »Unorthodox«. Es enthält die Keimzelle des Memoirs, nicht weil Sexualität darin das Wichtigste wäre, sondern weil sie zeigt, wie eine Gemeinschaft sich strenge Regeln auferlegt und den einzelnen mit den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, alleine lässt. Das Gebot, möglichst früh und viele Kinder zu zeugen und zu erziehen, könnte für sich genommen noch als akzeptabel erscheinen. Doch dabei zugleich auf sexuelle Aufklärung zu verzichten, ist unverantwortlich und schaden letztlich allen. Über ihre eigene Geschichte hinaus berichtet Feldman von Unfällen und Grausamkeiten, die keinen anderen Schluss zulassen.
Blog und Agentin
Wer Kapitel 7 liest, wundert sich nicht, dass Feldmans Blog eine »Flut von Kommentaren« anzog. In der Folge verschickte eine Studienfreundin ihre Blogeinträge an Verlage und Agenturen. Und recht bald entdeckt eine Agentin das Potential der Geschichte und beriet Feldman. Ich nehme an — vielleicht steht das in der Fortsetzung, die ich noch nicht gelesen habe —, dass ein Verlag ihr auch einen Vorschuss gewährte, mit dem sie als alleinerziehendene Mutter ohne Unterstützung ihrer Familie existieren konnte, bis das Buch fertig war und erscheinen konnte. So also hat Literatur und ihr Buch ihre Freiheit in doppeltem Sinn möglich gemacht.
Um sein Leben schreiben
Der fertige Text funktioniert nicht allein als Schlüsseltext, der die Neugierde von Passanten befriedigt, sondern auch als Mutmacher für alle, die von ihrem Leben schreiben, bloggen und Stück für Stück immer mehr zu ihren eigenen Autor*innen werden möchten. Von Kapitel 3 bis bis kurz vorm Ende entfaltet sich die Befreiungsgeschichte. Nur die ersten beiden Kapitel, in denen es auch um Deborah als jüngeres Mädchen geht, zeigen dramaturgische Schwächen. Mir drängt sich die Vorstellung auf, jene Agentin habe Feldman dazu angeregt, auch etwas von ihrer Kindheit zu erzählen, damit die Leser*innen ein vollständigeres Bild erhalten. Doch die Autorin, die gerade dabei war, auf eigenen Füßen zu stehen, scheint Mühe gehabt zu haben, sich in ihren früheren Zustand zurückzuversetzen, in dem sie noch nicht im Clinch mit ihrer ultrareligiösen Umwelt lag.
Und am Ende muss es allzu schnell gehen, kaum ist Feldman in einem »winzigen Kia« davongefahren, ist schon ein Jahr vergangen und es folgen versöhnlichere Töne.
Solche Kompromisse müssen wohl sein, wenn man seine Memoiren nicht mit Ende siebzig oder als gestandene Autorin zu Papier bringt, sondern buchstäblich um sein Leben schreibt.
Deborah Feldman: Unorthodox. Eine autobiographische Erzählung
btw Verlag, München 2017
ISBN 978-3-442-71534-3
P.S.: Das Buch hat übrigens zwei unterschiedliche Fortsetzungen gefunden. 2014 erschien “Exodus. A Memoir” in den USA. Die deutschsprachige Fortsetzung “Überbitten” wurde erstmals vom Sezession Verlag in Zürich veröffentlicht und geriet wesentlich umfangreicher. Es ist interessant, die beiden Versionen zu vergleichen — von denen keine jedoch die Intensität von Feldmann “Lebensbuch” erreicht.
Eine Antwort zu “Deborah Feldman: Unorthodox”
Lieber Herr Kappner,
Ihre Buchbeschreibung hat mich so neugierig gemacht, das ich mir das Buch gekauft habe. Meine Buchhändlerin hatte es sogar vorrätig. Was ich mit der Autorin teile ist die Erfahrung, dass Lesen mir die Augen geöffnet hat für so ganz andere Lebensformen und Möglichkeiten als das, was ich als Kind erlebte.
Jetzt bin ich gespannt, das Buch in die Hand zu nehmen, und ihre Geschichte zu erfahren.