Wie stark sich das Leben verändert hat. Und wie ähnlich sich die Menschen dabei im Grunde geblieben sind. Beides kann ich an Autobiografien und Erinnerungs-Büchern ablesen. Die Lektüre von Artur Plaisiers Kindheitserinnerungen machte mir erneut die enormen Veränderungen bewusst, denen das Alltagsleben in den letzten 100 Jahren unterworfen war.

Kindheits-Erinnerungen

Der 2018 erschienene Band »Bubis Kinnertied. Tüsken Wieken und Wullgras« enthält die Erinnerungen von Artur Plaisier (25.10.1927 bis 30.3.2006) an seine Kinderzeit (»Kinnertied«) bis zu seinem 16. Lebensjahr, posthum von seinem Sohn herausgegeben. Der Untertitel präzisiert: »Eine Kindheit in Ostfriesland und im Emsland in den 1930er und 1940er Jahren«, womit klar wird, weshalb der Titel Plattdeutsch ist, dessen Bedeutung sich mir als Ortsunkundigem nur mit ein wenig Mühe erschloss: »Tüsken« heißt »zwischen«, »Wieken« sind Kanäle und »Wullgras« ist nichts anderes als »Wollgras«, eine Pflanzenart, die vor allem in Moorgebieten zu finden ist.

Tatsächlich hat vieles, was Plaisier von seiner Kindheit erzählt, mit der Landschaft zu tun, in der er aufwächst. Das ist zunächst die Gegend um Westrhauderfehn in Ostfriesland — der Fehn, eine mittels Kanälen, eben jenen Wieken, entwässerte und erst in der Neuzeit nach und nach von Bauern besiedelte Moorlandschaft. Nach einem aufregenden Umzug mit dem Pferdefuhrwerk nach Bockhorst ins benachbarte Emsland änderte sich die Landschaft wenig, auch nicht die bäuerliche Lebensweise der Familie, aber sonst so einiges. Es ist beinahe rührend, zu lesen, wie der Grundschüler das neue Dorf, keine 20 Kilometer entfernt, als völlig neue Welt erfährt und sie, teils aus Neugier, teils aus Notwendigkeit, erkundet.

Niederdeutsche Landschaft

Zur Landschaft gehören bestimmte Menschen, Lebensumstände, und bestimmte Gewerke, auf deren Würdigung der Autor viel Wert legte. Man spürt, dass er, wie sein Sohn Detlef M. Plaisier im Vorwort schreibt, »unter dem Verlust der Heimat« litt und sich im Schreiben ein Stückchen davon wiederholen wollte. Auf Seite 38 erklärt Plaisier die besondere Rolle der Nachbarn in seiner Heimat:

Auf Nachbarn, ostfriesisch Nabers genannt, wird in allen Dörfern des Fehns viel Wert gelegt. Die »Naberskupp« muss gepflegt werden. Das hängt auch mit der Besiedlung des Fehns zusammen. Oft ist von Hof zu Hof eine lange Wegstrecke zurückzulegen. Man ist hier aufeinander angewiesen. Tritt ein Notfall ein und ein Arzt muss geholt werden oder sind aus der fernen Apotheke Heilmittel zu besorgen, dann ist »Nabershülp« gefragt.

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Deutsche_Dialekte.PNG

Diese Bedeutung vermittelte sich auch dem kleinen Artur, den alle »Bubi« nannten. Wie anders wäre zu erklären, dass er sowohl die Nachbarn in Westrhauderfehn als auch die späteren in Bockhorst ausführlich würdigt? Jeden Nachbarn lernt der Leser kennen, wie auf einem heimatlichen Rundgang, und darf sie sich beim Ostfriesentee vorstellen. Dabei kommen Familienverhältnisse, Berufe oder Begebenheiten zur Sprache, die der Autor mit ihnen verband. Auf mancher Strecke wurde ich als  wandernder Leser etwas müde, doch dann traf ich auf ein ostfriesisches Original wie dem »Oll Willm«, einem kauzigen Moorkaten-Einsiedler, oder auf Schneidermeister Ficken, der Kautabak sieben Meter weit in einen Kasten spucken konnte. Spannend ist auch die Abbildung des erstaunlich vernünftigen »Merkblatts zum Züchtigungsrecht der Lehrer« von 1920, die vermutlich auf den Herausgeber zurückgeht.

Dreschen, Buttern und Imkern

Auch die ausführlich erklärten althergebrachten Tätigkeiten, zum Beispiel des Dreschens von Getreide, des Butterns oder der korrekten Zubereitung eines Tees, ließen mich aufmerksam werden. Dabei überzeugt der Autor mit Ausführlichkeit und konkreten Beschreibungen wie dieser, die ihn als Zwölfjährigen (!) beim Betreuen von Bienenvölkern zeigt:

Am Abend schlich ich um die Bienenvölker herum und trat dabei ganz leise auf. Schon bei der Annäherung hatte ich zirpende Töne vernommen. Tatsächlich: Aus einem der Körbe drang ein klares Rufen. Eine Weisel sprach zu ihrem Volk und bereitete es auf das Ausschwärmen vor. Nun war ich an der Reihe: Ich füllte einen Eimer mit Wasser und legte die kleine Wasserspritze bereit, die auch zum Sprengen im Garten verwendet wurde. […] Dann rückte ich den Korb für das Einfangen zurecht. Um die Bienen gleich an die neue Behausung zu gewöhnen, wurden die Innenwände mit Zuckerwasser ausgespritzt. (S. 177)

Mir wurde bewusst, was Kindern in dieser Zeit und an diesem Ort zugetraut wurde und was sie bewältigen konnten. Später, im Krieg, musste Artur Plaisier noch allzu viel bewältigen.

Gebrochene Spannung

Bei allen diesen Beschreibungen kam es dem Autor nicht auf die Chronologie an. So wie man in einem Heimatmuseum den einen Rundweg genauso gut wie den anderen gehen kann. An einigen Stellen musste ich mich bei der Lektüre neu orientieren und hätte manchmal schon gerne gewusst, wie alt die Erzählerfigur bei dieser oder jener Episode gewesen war. Erst beim erwähnten Umzug und später, als seine Schulzeit zu Ende ging (er war gerade erst 14), folgt ein Ereignis dem nächsten. Ist der Text zu Beginn vor allem durch heimatkundliche Beschreibungen gekennzeichnet (auch durch die Wiedergabe von Versen, Rezepten und Ähnlichem) und durch einzelne, eingestreute Episoden, fügt er sich am Ende der autobiografischen Dramaturgie und wird zum Beginn einer Lebenserzählung. Leider nur zum Beginn, denn die Erzählung bricht ab, als er zu den Soldaten muss:

Hier mache ich eine Zäsur, denn nun begann ein neues Kapitel in meinem Leben. Vorbei war es mit dem Schöfeln und Buden, vorbei mit den Bienen und dem Ruf der Weisel. (S. 289)

Dieses neue Kapitel scheint er nie geschrieben zu haben.

Zeitzeuge der Moorsoldaten

Neben den heimatkundlichen und autobiografischen Elementen enthält »Bubis Kinnertied« ein drittes Moment. Als Zeitzeuge berichtet Artur Plaisier unter anderem von der Arbeit seines Vaters im KZ Börgermoor, das durch das Lied »Wir sind die Moorsoldaten« bekannt wurde: Als die Familie ins nahe Emsland zog, übernahm der Vater eine Tätigkeit »bei der Mooradministration und wurde im Strafgefangenenlager Esterwegen eingesetzt.«
Dass diese Arbeit das eigentliche Motiv für den Umzug war, ist zu vermuten, wird jedoch nicht ausdrücklich bestätigt. Weiter heißt es:

Obwohl ich Berichten und Erzählungen der Erwachsenen bereits damals aufmerksam lauschte, ahnte ich noch nicht, dass mit Esterwegen meine persönliche Verbindung zur deutschen Geschichte hergestellt werden sollte. Ich erlebte manche Ereignisse des Dritten Reiches rund um das KZ-Lager Esterwegen und Börgermoor hautnah mit. (S. 133)

Schuldfrage offen

In den Ereignissen, die geschildert werden, wird die Rolle des Vaters Johann Plaisier in der Lagerverwaltung durchweg positiv beschrieben. Der Vater schmuggelte Kassiber nach draußen, beschaffte Waren für die Häftlinge und ging dabei persönliche Risiken ein. Zuhause wurde keine Nazi-Ideologie gepredigt, vielmehr Menschlichkeit vorgelebt. Als Johann Plaisir NSDAP-Ortsgruppenleiter wurde und seine Frau Frauenschaftsführerin, taten sie das auf Befehl des Kreisleiters und keineswegs freiwillig. Der Autor nimmt deutlich Stellung gegenüber denjenigen, die sämtliche NS-Amtsinhaber für korrumpiert halten:

Meine Eltern heute zu verurteilen, ist mehr als ungerecht. Es zeugt von einer einseitigen Beurteilung der damaligen Verhältnisse und der Unkenntnis der inneren Notlage der ausgenutzten Menschen. In diesem Zusammenhang sei die Frage erlaubt, was mehr zählt: ein zwangsweise übernommenes Amt oder die tägliche praktische Hilfe, die den Verfolgten das Leben etwas erträglicher machte. (S. 225f.)

Dieser Vortrag wirkt überzeugend, auch wenn mittlerweile bekannt ist, wie stark die private Persönlichkeit von NS-Tätern die Urteilskraft ihrer Angehörigen trüben konnte und bis heute kann. Artur selbst wird von der Kreisleitung der HJ zur Reichsführerschule in der Nähe von Posen geschickt, eine Art Abhärtungslager. Auch hier liegen Ehrung und Gängelung dicht beieinander. Der Text selbst, der in den 1990er-Jahren entstand, lässt keinerlei Sympathie mit NS-Gedankengut erkennen. Er will auch nicht mehr sein, als das Dokument eines Zeitzeugen. Eine Perspektive, eine Erinnerung von vielen möglichen, keinesfalls historischer Überblick oder Belegsammlung.

Herausgeberschaft

Ich habe »Bubis Kinnertied« in allem, was das Buch enthält, gerne und mit Gewinn gelesen: Als Heimatkunde einer mit völlig unbekannten Landschaft, als autobiografische Erzählung eines von den Umständen seiner Zeit früh »abgehärteten« Jungen und als Zeitzeugnis. Die Sprache des Buchs ist schlicht und angenehm, anerkennenswert für einen Autor, der, so nehme ich an, mit diesen Erinnerungen seinen ersten längeren Text verfasste. Wie groß der Anteil ist, den sein Sohn als Herausgeber daran hat, lässt sich nicht sagen. Im Vorwort schreibt er davon, den Text »behutsam sprachlich angepasst« zu haben. Ein Faksimile hätte einen Eindruck davon vermitteln können, was genau das bedeutet.

Überhaupt, und hier beginnt meine Kritik, fehlten mir bei der Lektüre einige Informationen, um das Gelesene schneller und deutlicher einordnen zu können. Die kommentierenden Fußnoten des Herausgebers und die Einschübe weiterer Autoren zu einzelnen Fachthemen helfen zwar. Neben solchen Details fehlt leider einiges, was mir wesentlicher erscheint. Zum Beispiel schildert Detlef M. Plaisier nachvollziehbar, wie ihn das Manuskript seines Vaters zur eigenen biografisch-psychologischen Aufarbeitung herausforderte. Er fand es, überrascht, in seinem Nachlass — ich nehme an, ohne weiteren Kommentar, wie damit zu verfahren sei. Fragen stellen konnte er nicht mehr, zum Beispiel zu den Geschehnissen um das KZ Börgermoor.

Ergänzung der Biografie

Doch wusste er sicherlich, wie die Geschichte weiterging, die in den Schilderungen seines Vaters so abrupt endet. Eine knappe Ergänzung der Biografie hätte die Perspektive verdeutlichen können, aus der sein Vater später schrieb. Mehr als seinen Beruf (Polizeibeamter) erfährt man nicht. Sehr gerne hätte ich auch gelesen, wie gut das Gedächtnis von Artur Plaisier im allgemeinen war. War es ihm zuzutrauen, dass er den gesamten Text — mit vielen Namen von Nachbarn, Lehrern usw. — aus der Erinnerung aufgeschrieben hatte? Oder konnte er über Notizen verfügen, beschriftete Fotoalben oder ähnliche Gedächtnisstützen? Wie ging er überhaupt mit Schrift und Geschriebenem um? War er ein Leser?

An diesen Fragen sieht man, dass es mir besonders wichtig ist, Bücher und Texte klar einordnen zu können. Der Farbigkeit des »Stilgemäldes« wie Detlef M. Plaisiers Psychotherapeut das Buch im Nachwort nennt, nehmen solche Versäumnisse natürlich nichts.

Auch Äußerliches hilft der (schnellen) Einordnung. Das Cover passt wunderbar zum Inhalt, Buchsatz und Layout strahlen Professionalität aus. Hochwertigeres Papier hätte manchen Bildern vielleicht gut getan, doch dann wäre das Buch wohl teurer geworden als bescheidene 15 Euro. Die Bildauswahl spiegelt den Inhalt wieder. Nur der Titel führt zunächst in die falsche Richtung, weil Detlef M. Plaisier nicht als Herausgeber gekennzeichnet ist.

Empfehlung

Ich würde»Bubis Kinnertied« allen empfehlen, die an der jüngeren Geschichte Ostfrieslands und des Emslands interessiert sind. Wer Heimatmuseen mag, wird das Buch lieben. Für Lokalhistoriker der beschriebenen Gemeinden ist es ein Muss. Bestimmt ist es auch für alle interessant, deren Vorfahren auf der einen oder anderen Seite erwähnt werden.

Wer vor allem romanhaft gestaltete Auto-/Biografien liest, die den Protagonisten und seine Erlebnisse klar in den Vordergrund stellen, muss bei diesem Buch etwas Geduld aufbringen.

Detlef M. Plaisier:
Bubis Kinnertied. Tüsken Wieken und Wullgras.
Eine Kindheit in Ostfriesland und im Emsland in den 1930er und 1940er Jahren.
acabus Verlag, Hamburg 2018,
ISBN 978-3-86282-470-0