
#G1 — Kollektives Erinnern
Zum Standardrepertoire von Büchern übers biografische Schreiben zählt mittlerweile der Hinweis auf Joe Brainards Buch »Ich erinnere mich« (»I remember«, 1970, deutsch im Walde+Graf-Verlag, Zürich 2011), worin der amerikanische Künstler einen Satz nach dem anderen aufs Papier bringt, der mit »Ich erinnere mich« beginnt, ohne dass sie einen größeren Zusammenhang für sich in Anspruch nehmen als eben jenes Erinnern. Wenn Zusammenhänge erkennbar werden, dann scheinen sie sich im Erinnern selbst ergeben zu haben. Es gibt also keine Geschichte, keine These, keine Botschaft. Und trotzdem liest man weiter, denn immer wieder stößt man auf Erinnerungen, die so knapp sie sind, selbst Erinnerungen auslösen, eine interessante Geschichte andeuten oder ein spezielles Detail enthalten. Gerade solche, die in einem fortlaufenden Text womöglich keinen Platz hätten, etwa diese (die für mich funktionieren):
Ich erinnere mich an dieses kurze Zusammenzucken, das man kurz vor dem Einschlafen hat. Als würde man fallen. (Seite 72)
Ich erinnere mich, dass ich in einer im Park nachgestellten Krippe (nichts rührte sich) den Joseph darstellte. Man musste einfach eine halbe Stunde lang nur dastehen, dann kam ein anderer Joseph, und man trank eine Tasse heiße Schokolade, bis man wieder an der Reihe war. (S. 75)
Mir zeigen diese Erinnerungssplitter vor allem, dass unsere Erfahrungen als Menschen oft erstaunlich nahe beieinander liegen, wir also gar nicht so verschieden sind, wie wir denken. So kam ich auf die folgende Schreibgruppen-Idee:
Schreibgruppenidee G#1: Die Teilnehmer setzen sich im Kreis und schreiben jeweils auf ein DIN-A-4-Blatt einen Satz, der mit »Ich erinnere mich« beginnt. Dann geben sie ihr Blatt im Uhrzeigersinn weiter, lesen den Text ihres Nachbarn und schreiben einen neuen Satz »Ich erinnere mich …« darunter. So schreibt die Gruppe weiter, bis die Blätter wieder bei ihren ersten Schreibern ankommen. Dann werden die Texte reihum vorgelesen.
Hinweis 1: Die Sätze können lang oder kurz sein, müssen aber alle mit »Ich erinnere mich« beginnen. Machen Sie als Gruppenleiter keine inhaltlichen Vorgaben. Es sind also sowohl direkt anschließende Erinnerungen erlaubt als auch völlige Themenbrüche (die dann aber vielleicht doch einen »geheimen« Zusammenhang erahnen lassen.)
15 Kommentare/Textbeiträge
Ich erinnere mich an die Sonntagsruhe meiner Kindheit. Sommer, Mittagszeit, kaum Verkehr. Es lag eine besondere Stille über dem Dorf. Vereinzelt hörte ich durch die offenen Fenster Geschirrgeklapper vom Mittagsessen. Fern auf einem der Felder tuckerte ein Traktor. Die Bienen summten. Die Vögel hielten Mittagsruhe.
Ich erinnere mich an große Wiesen, über die wir rannten, unter blauem Himmel schier endlos.
Ich erinnere mich an den Sauerampfer, den wir abrissen und ungewaschen in den Mund steckten. Wir liebten den säuerlichen Geschmack.
Ich erinnere mich an den gelben Löwenzahn auf sattgrüner Wiese. Wir wandten Kränze daraus, die wir uns gegenseitig ins Haar setzten und fanden uns schön.
Ich erinnere mich, dass wir im Sommer fast immer barfuß liefen und wie schmutzig unsere Füße abends waren.
Liebe Frau Wohn,
vielen Dank!
Ich erinnere mich an Schwalben, die über unseren Hof flogen, mitten hinein in eine unabzählbare Menge von Mücken und Schnaken, und es sich gut gehen ließen.
Ach, so könnte ich einen ganzen Vormittag lang weitermachen 🙂
Wer erinnert sich noch?
Ich erinnere mich auch an den Geschmack von Sauerampfer, der uns beim Vater-Mutter-Kind-spielen in der Bauernwiese als “Mittagessen” diente, und an die großen Kreise, die wir dem armen Bauern in die Wiese getrampelt hatten, um sie als Zimmer unsres Vater-Mutter-Kind-Hauses zu nutzen.
Ich erinnere mich nicht an den Bauern.
Ich erinnere mich an den sandigen Weg zum Bolzplatz und wie ich mit dem Fahrrad in der Kurve wegrutschte und mir das Knie aufschürfte.
Ich erinnere mich nicht an die Schmerzen.
Ich erinnere mich an die groooße, gelbe Löwenzahnwiese neben dem Bolzplatz, in der ich eines Morgens mit meiner Freundin ganze Arme voller Blüten für die beste Lehrerin der Welt pflückte, und dass wir deshalb doch glatt zu spät zum Unterricht kamen.
Ich erinnere mich nicht, ob die Lehrerin Löwenzahn mochte.
Ich erinnere mich daran, dass mein Vater Löwenzahl “Zichorie-Bisch” nannte, und wie es mich verwirrte, dass die Pflanzen in der Schule anders hießen.
Ich erinnere mich, dass wir aus den Dolden des Fliederbusches einzelne Blüten herauszupften, die Enden in den Mund steckten und den kleinen süßen Tropfen genossen. Fliederhonig.
Ich erinnere mich, dass mein Vater am Tag nach einer inspirierenden Wetten-dass-Sendung die Teelichter am Abendbrottisch ebenfalls mit der Nase auspusten wollte und auch konnte. Von den Wachsspritzern auf der dunkelblauen Tischdecke sprechen wir heute noch.
Ich erinnere mich an die Trümmerstadt, ein einziger großer Abenteuerspielplatz für uns Kinder.
Ich erinnere mich an zugewucherte Trümmergrundstücke und an verbotene Keller voller Kostbarkeiten – ein Kronleuchter mit seinem geschliffenen Fassetten. Sie waren unser Schmuck beim Indianerspielen.
Ich erinnere mich an Hollunderbeeren und Hollunderzweige. Die Zweige höhlten wir zum Blasrohr aus.
Ich erinnere mich an große Bütten mit ungelöschtem Kalk, die uns so streng verboten waren wie die Blindgänger.
Ich erinnere mich an den Weißen Sonntag zwischen Trümmern, an Schneeregen im April und wir Jungs in kurzen Hosen, wie es dem Pastor gefiel.
Lieber Herr Hecker,
das ist ja eine Freude 🙂
Ich erinnere mich an eine Sandsteinmauer, die hinter einer Hecke lag, in die wir hineinkriechen konnten, um Mörtel zu kratzen und einzelne Steine herauszulösen. Wie Häftlinge, die aus einem Gefängnis ausbrechen.
Ich erinnere mich an die Garage neben dem Heizwerk, auf die man von hinten durchs Hanggebüsch bequem klettern konnte und von der man nach vorne als Mutprobe herunterspringen sollte.
Ich erinnere mich, dass Garagendächer hoch sind. Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte zu springen.
Ich erinnere mich an die Diskussion, ob ich springen MUSS. Interessanterweise erinnere ich mich nicht mehr, ob ich gesprungen BIN, was wohl dafür spricht, dass ich es nicht getan habe.
Aber ich erinnere mich an die Suche nach vierblättrigem Klee auf der Wiese direkt neben diesem Heizwerkgaragenhanggebüsch und dass mir dort Iris oder Nicole sagten, man könne Gras essen. Ich erinnere mich, es direkt probiert zu haben. Gras schmeckt nicht.
Ich erinnere mich
an die Augusttage, an die vor kurzem erinnert wurde, wie an den Todestag von Elvis Presley am 16. August. Ich erinnere mich, dass ich als Teenager nicht für ihn schwärmte. Ich konnte kein Englisch und verstand die Liedtexte des „Kings“ kaum, seine Musik war mir zu „rockig“. Ich erinnere mich, dass an der Innenseite des Kleiderschrankes ein Poster von Peter Kraus hing. „Sugar Baby“ trällerte sich leichter, „Kitty Cat“ war auch ganz schön fetzig und der Rock’n Roll von Peter und Conny sah auch gut aus.
Ich erinnere mich nicht, ob in der “Tagesschau“ Bilder vom Beginn des Mauerbaus in Berlin am 13. August 1961 bereits am selben Abend gesendet wurden oder erst am Tag danach. Die technischen Übertragungsmöglichkeiten waren damals noch nicht so schnell wie heutzutage. Ich erinnere mich, dass es ein schöner Sommertag gewesen war und wir nachmittags einen Ausflug gemacht hatten. Ich erinnere mich an die Bilder im kleinen Fernsehgerät, die Menschen zeigten, die fassungslos denen zuschauten, die das Straßenpflaster aufrissen und Stacheldraht zogen. Ich erinnere mich, dass wir nicht verstanden, was da vor sich ging, als wir die vielen Volkspolizisten und Grenzsoldaten mit den Gewehren sahen und die Panzer in den Straßen. Berlin war weit weg und Politik außerhalb meines Interesses. Ich erinnere mich, dass wir aber merkten, wie sich etwas anbahnte, was sich nicht gut anfühlte. Ich erinnere mich, dass dieses unbestimmte Gefühl auch dann auftrat, wenn Onkel Michel und Tante Lisbeth aus Elsterwerda in der DDR zu Besuch kommen durften.
Ich erinnere mich an die Zeit um den 21. August 1968 und dem Ende des „Prager Frühlings“ nur als allgemeine Aufregung in der Redaktion des Bayerischen Rundfunks, in der ich zu jener Zeit arbeitete. Ich erinnere mich, dass der Korrespondent in Prag nicht mehr berichten durfte und seine Beiträge für die tagesaktuellen Sendungen wenn überhaupt dann auf Umwegen und verschlüsselt zu uns kamen. Ich erinnere mich, dass er bei einem Besuch in der Redaktion davon sprach, wie gefährlich seine Arbeit nach dem Einmarsch der Truppen der Warschauer Pakt-Staaten in Prag geworden war. Ich erinnere mich, dass ich erst einige Jahre später wieder auf diese Zeit und den Widerstand in der Tschechoslowakei (CSSR) aufmerksam wurde. Der hatte bereits in diesem August 1968 im und vor dem Rundfunkgebäude in Prag begonnen. Ich erinnere mich, dass irgendwann 1970 im Studio Rom des BR darüber gesprochen wurde, dass man den früheren Generaldirektor des Tschechischen Fernsehens darin unterstützen müsse, in Rom Fuß zu fassen. Jiri Pelikán war nach dem Angriff auf das Prager Rundfunkgebäude mit Mitarbeitern in den Untergrund gegangen, von wo aus verbotenerweise weitergesendet wurde, und dann 1969 nach Rom emigriert. Ich erinnere mich vage an seine markante Erscheinung, aber dafür noch gut an seine Frau. Ich erinnere mich an eine junge, elegante Frau mit langen, blonden Haaren; Jitka Pelikánová war Schauspielerin und durfte in Italien nicht als solche arbeiten. Ich erinnere mich, dass es mich beeindruckte, dieser politisch verfolgten Dame gegenüber zu stehen, aber nicht, mit welchen Empfehlungen man ihr und ihren Mann für ihr Leben im Exil weitergeholfen hat.
Ich erinnere mich an den 13. Februar 1969
Ich erinnere mich, dass ich die sogenannte Spätschicht hatte. Spätschicht war nicht weiter schlimm, denn sie dauerte nur bis gegen 19 Uhr, bis die Sendung „Chronik des Tages“ zu Ende war und der Redakteur sich abgemeldet hatte. Die Sendung begann um 18 Uhr und kurz vor 5 Uhr nachmittags hatten alle Mitarbeiter die „Zeitfunk“-Redaktion schon verlassen. Es war ja auch Weiberfasching, der Auftakt für die letzten närrischen Tage dieses Jahres.
Ich erinnere mich, dass ein Telefonanruf kam, aber nicht mehr von welcher ARD-Rundfunkanstalt. Ich erinnere mich jedoch, dass die Frauenstimme fragte, ob wir denn schon einen Beitrag in der Sendung haben über die im Münchner Uniklinikum stattgefundene Herztransplantation und wann sie ihn übernehmen könnten? Ich erinnere mich, dass ich erschrak und sofort dachte „jetzt nur nichts anmerken lassen“ – Herztransplantation hier bei uns? – davon stand nichts im Laufplan der Sendung, das wusste ich, hatte ich ihn doch selbst getippt. Cool bleiben war oberstes Gebot, schließlich sollten die vom anderen Sender nicht meinen, wir – zwar nicht von der Nachrichtenredaktion aber immerhin vom „aktuellen Zeitgeschehen“ – wären nicht auf dem Laufenden. Ich erinnere mich, dass ich es irgendwie geschafft habe, die Anruferin zu vertrösten – wir wären noch am recherchieren und es wäre noch kein Pressegespräch angesagt worden.
Ich erinnere mich, das ich sofort die Nachrichtenstelle anrief und dort gerade die Ticker heißt liefen mit der Meldung, dass die erste Herztransplantation in Deutschland erfolgreich durchgeführt worden war. Und nun?
Der diensthabende Redakteur war bereits im Sendebereich, wo die Einspielbänder für die Sendung noch zusammengestellt werden mussten, und nicht zu erreichen und kein Reporter mehr in der Redaktion. Ich erinnerte mich, dass ich fieberhaft überlegte, was zu tun wäre – erst mal in die Nachrichtenstelle laufen und wenigstens die Telefaxe holen. Ich erinnere mich, dass ich zum Glück noch einen Blick ins Büro der Volontäre warf, wo Hans-Heinz H., ein freier Reporter, der eigentlich eher für den Jugendsender unterwegs war, gerade seinen Mantel zuknöpfte, um sich auch auf den Heimweg zu machen. Das war die Chance für uns beide: er konnte über eine Superstory berichten und ich die „Ehre der Redaktion“ retten! Ich erinnere mich, dass ich ihn in knappen Worten von der Sachlage informierte, ich die eingegangene Meldung der Nachrichtenagentur holen und ins Aufnahmestudio weitergeben würde und er sich um ein Aufnahmegerät kümmern solle – damals ging man noch mit Uher-Tonbandgerät auf Reportage.
Ich erinnere mich, dass letztendlich alles gut verlief. Ob diese brandaktuelle Sache – die HerzOP war erst kurz vorher abgeschlossen und noch nichts über das Gelingen nach außen getragen worden – noch als Beitrag in die 18-Uhr-Sendung gelangte oder nur als Nachricht vermeldet wurde, daran erinnere ich mich nicht. Aber ich erinnere mich, dass auch der nächste Tag noch sehr geschäftig war. Die Ärzte mussten bekannt geben, dass der Patient trotz der geglückten Herztransplantation gestorben war.
Liebe Frau Fernekeß,
vielen Dank für Ihre Beiträge. Sie zeigen, wie einfach und zugleich hochflexibel diese Textidee ist. Das “Ich erinnere mich” hilft nicht nur tatsächlich beim Erinnern und über jede anfängliche Formulierungsschwierigkeit hinweg. Es strukturiert den Text auch in Parallelismen, die schön zu lesen sind.
Mit Ihrem zweiten Text haben Sie außerdem das Genre der Vergangenheits-Live-Reportage erfunden 😉
Herzlich, Stefan Kappner
Wieder einmal Beethoven gehört – kein Wunder, da Beethovens Musik derzeit anlässlich seines 250. Geburtstags überall anzutreffen ist.
Dazu erinnere ich mich an ein anderes Konzerterlebnis vor über fünfzig Jahren …
Ich erinnere mich, dass es aussichtslos gewesen wäre, kurzfristig noch an Karten zu gelangen und wir schon Tage vorher lange anstehen mussten, um an eines der begehrten Biglietti zu kommen. Ich erinnere mich, dass das Auditorium der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in der römischen Via della Conciliazione dann auch bis auf denn letzten Platz gefüllt war – kein Wunder, alle wollten den Meisterpianisten hören.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie das Konzertprogramm gestaltet war, aber das Tagebuch jener Zeit gibt Aufschluss darüber. Es wurde „Novae de infinito laudes“, die „neue[n] Lobgesänge auf das Unendliche“, von Werner Henze aufgeführt. Aber ich erinnere mich sehr gut an die schrillen, nicht enden wollenden Pfiffe, Buh-Rufe und das laute Gemeckere der aufgebrachten Zuhörer – verkannter Henze, Rom war wohl noch nicht bereit für seine Musik. Ich erinnere mich, dass meine Freundin und ich mich dazu unterhalten haben, ob auf deutsch oder italienisch, das weiß ich nicht mehr. Bis dann nach der Pause Arthur Rubinstein, der großartige alte Pianist, für Beethovens 4. Klavierkonzert auf die Bühne kam und mit tosendem Applaus empfangen wurde. Ich erinnere mich, dass sich der vor uns sitzende ältere Herr zu uns umdrehte und mit einem Lächeln meinte „Beethoven – che aria di montagna!“ – Beethoven, wie reinste Bergluft!