Die meisten Autobiografien folgen der „klassischen“ Form: Der Autor oder die Autorin berichtet von ihrem eigenen Leben in der 1. Person oder Ich-Form und hält sich dabei mehr oder weniger genau an die chronologische Reihenfolge. Diese Art von Lebensbericht ist besonders leserfreundlich: Die Chronologie lässt uns die Ereignisse leichter einordnen, als wenn zwischen Schauplätzen und Lebensaltern hin und her gesprungen wird. Außerdem kommen wir nicht mit der Hauptfigur durcheinander: Sie ist eben jenes „Ich“, das erzählt und von dem zugleich erzählt wird. Und außerdem steht ihr Name auf dem Buchdeckel. Anders als bei Romanen müssen wir bei Autobiografien nicht zwischen dem Autor und seinem Gegenstand unterscheiden. So scheint es. Und daran kann sich der autobiografisch Schreibende orientieren, oder?
Kritik an der konventionellen Form
Der Literaturdidaktiker Günter Waldmann hat Einwände. Sein äußerst lesenswertes Buch „Autobiografisches als literarisches Schreiben“ (Schneider Verlag, Hohengehren 2000) ist beinahe so etwas wie ein ausführlich formulierter Einwand gegen die schnelle Beruhigung des autobiografischen Schreibens bei jener klassischen Form. Waldmanns zentrale These:
Die uns vertraute Autobiografie […] wurde entwickelt, um ein bestimmtes […] Welt- und Menschenbild darzustellen: das des Individualismus, das heißt das […] Bild vom selbstgesetzlichen Individuum als Sinnmitte der Welt. (Waldmann, S. 55)
Dieses Menschenbild ist heute fundamental fragwürdig und obsolet geworden. Daher hat die Erzählform des geordnete und heile Welten bewirkenden autonomen Mittelpunktshelden heute literarisch nur noch in der Trivialliteratur Belang – und in konventionell, in sukzessiv geordneter Ich-Form geschriebenen Autobiografien, wo diese Form noch immer als zeitlos und „natürlich“ gilt. (56)
Waldmann argumentiert ohne Wenn und Aber. Ich teile sein Urteil nicht uneingeschränkt. Weder glaube ich, dass das skizzierte Menschenbild des Individualismus gänzlich obsolet ist oder verschwinden sollte. Noch halte ich die klassische oder konventionelle Form der Autobiografie für völlig unzeitgemäß. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden großartige Autobiografien in dieser Form verfasst, Marcel Reich-Ranicki („Mein Leben“, 1999) etwa wählte sie sicherlich nicht aus Unkenntnis oder aus Nähe zur Trivialliteratur.
Schwierige Chronologie, brüchiges Ich
Von Waldmanns Kritik kann man jedoch etwas Wichtiges lernen: Es gibt keine „naturgegebene“ Form für das autobiografische Schreiben. Jede Form ist geschichtlich entstanden und verhält sich daher keineswegs neutral zum Inhalt. Es lohnt sich, einige mögliche Formen zu kennen und sie bewusst zu wählen – sonst vermittelt man über die Form womöglich ein falsches Bild von sich und den eigenen Erinnerungen.
Die Chronologie beispielsweise, sie ist nicht einfach gegeben. Wir oft irren wir uns beim Erinnern über das Vorher und Nachher, müssen Freunde fragen, Lexika und private Aufzeichnungen heranziehen. Wer eine konventionelle Autobiografie schreibt, stellt die Chronologie wieder her und übt sich als der eigene Historiker. Dabei könnte er den Vorgang des Erinnerns auch selbst in den Mittelpunkt stellen und den Leser an der Auseinandersetzung mit Reihenfolgen und Ursache-Wirkungs-Beziehungen teilhaben lassen.
Und wie ist es mit dem Status des „Ich“? Waldmann erklärt zu Recht, dass das sich erinnernde Ich (Sie, wenn Sie autobiografisch Schreiben) keineswegs einfach identisch ist mit dem erinnerten früheren Ich. Nicht selten fällt es uns schwer, zu verstehen, warum wir so oder so gehandelt haben. Im Laufe des Lebens können wir uns fremd werden, und wir können uns wieder finden. „Im Alter von fünf Jahren konnte ich stundenlang unter dem Küchentisch sitzen und mit den Spielzeugautos beschäftigen, die ich zu Weihnachten von Onkel August geschenkt bekommen hatte“ – wer so etwas schreibt, zehrt mit großer Wahrscheinlichkeit von fremden Erinnerungen oder Geschichten. Er schreibt von einem Ich, dass er heute kaum mehr „in sich“ wiederfinden kann. Schon darum nicht, weil der Fünfjährige eine völlig andere Sprache sprach, ganz anders dachte, und unterm Tisch sicherlich keinen Zusammenhang mit Weihnachten sah.
Autobiografisches Schreiben in vielen Formen
Wer autobiografisch schreibt, muss sich entscheiden, ob er – des Leseflusses willen oder aus anderen Gründen – die Illusion des bruchlosen Ich beibehalten will, oder sich anderer Erzähltechniken bedient, um Nähe und Distanz, Lücken und Kontinuität auszudrücken.
Ob die konventionelle Form der Autobiografie, wie Waldmann meint, philosophisch wie politisch unhaltbar geworden ist, möchte ich offen lassen. Diese weitreichende Frage verlangte eine weitreichende Antwort –womöglich in Buchform. Unabhängig davon kann man sagen: Für jeden, der (auto)biografisch schreibt, ist es nützlich, möglichst viele literarische Formen zu kennen, in denen man über sich selbst und die eigene Welt schreiben kann. Nur so lässt sich die jeweils passende Form auswählen.
Und hier ist Waldmanns Buch ein echter Schatz: Es unterscheidet ein Dutzend verschiedene Formen autobiografischen Schreibens, führt unzählige Beispiele auf und stellt 16 „Erzählmodelle“ dar, die im „modernen autobiografischen Schreiben“ Verwendung fanden. Von Arno Schmidt bis Peter Härtling, von Luciano De Crescenzo bis Franz Innerhofer. Jedes Buch wird ausführlich vorgestellt, zitiert, analysiert. Ein unerschöpflicher Steinbruch von Ideen – und Lesestoff für mindestens ein Jahr.