Häufig beschäftigt sich autobiografische Literatur mit dem Besonderen im Leben, mit den außergewöhnlichen Erlebnissen oder Wendepunkten. Vielleicht neigen einige Autoren auch dazu, das gar nicht so Seltene zum Ereignis zu stilisieren, um Lesererwartungen zu genügen. Der Autor dieses autobiografischen Romans bewegt sich in die andere Richtung — und erreicht damit einen interessanten Effekt.

J. J. Voskuil war von 1957 bis 1987 Beamter an einem volkskundlichen Institut in Amsterdam. Während dieser Zeit schrieb er einen anderen autobiografischen Roman, der zunächst nicht viel Beachtung fand. Seinen schriftstellerischen Durchbruch schaffte er erst nach der Pensionierung, als er die Erfahrungen seiner 30-jährigen Zeit als Kulturwissenschaftler in nicht weniger als sieben Bänden »Het Bureau« verarbeitete.

Pure Langeweile?

Zunächst scheint alles auf Langeweile hinzudeuten: Voskuils alter ego, Maarten Koning, wird vom Direktor des volkskundlichen Instituts eingestellt, der ihn als Niederländisch-Student kennen- und offenbar schätzen gelernt hat. Doch er macht von Anfang an keinen Hehl daraus, dass er von der Art von Wissenschaft nicht viel hält, die im »Büro« betrieben wird. Und dass er die Arbeit, wie er auch gegenüber seiner Frau Nicolien betont, für sinnlos hält. Anders als sie hält es aber über kurz oder lang für notwendig, Geld zu verdienen, darum nimmt er Direktor Beertas Job-Angebot an. Das klingt alles nicht sehr spannend. Hinzu kommt, dass das Buch wie eine Chronik nach Jahreszahlen geordnet ist: 1957, 1958 etc. heißen die Kapitel, deren größere und kleinere Abschnitte sonst nur durch Leerzeichen und Sternchen voneinander getrennt sind.

Bei der Lektüre der 830 Seiten des ersten Bandes habe ich mich jedoch keineswegs gelangweilt. Woran liegt das? Ich hoffe, nicht nur an meinem absonderlichen Geschmack. Aber nein: Immerhin war das Buch in den Niederlanden ein großer Erfolg, auch wenn ich die Harry-Potter-ähnlichen Schlangen vor den Buchhandlungen (jeweils beim Erscheinen des nächsten Bandes) nicht recht glauben mag, von denen das Nachwort berichtet. Aber es gibt zwei Gründe (oder vielleicht drei), die zumindest eine leichte Euphorie plausibel machen.

Von Szene zu Szene

Der erste Grund ist für alle interessant, die sich mit dem Schreiben von Szenen und Dialogen befassen. Denn ähnlich wie ein Kriminalroman ist Voskuils autobiografischer Stil komplett szenisch ausgerichtet. Er erzählt von den Jahren, indem er einzelne Episoden herauspickt und sie szenisch aufbereitet. Das sind einzelne Gespräche im Büro, vor allem, wenn Mitarbeiter eingestellt werden oder gehen, ein Teil einer Dienstreise, ein Ausflug, einzelne private Treffen, oder die Geschichte, wie Maarten und Nicolien zu ihrer Katze kommen. Diese Szenen sind streng chronologisch angeordnet, aber durch keine Zusammenfassung à la »Was inzwischen geschah« verbunden. Die einzelnen Szenen können nur eine Seite lang sein, selten nehmen sie mehr als fünf oder sechs Seiten ein. Hier ein besonders kurzes Beispiel:

»Deetje Haan hat Einwände gegen diesen Veen«, sagte Nijhuis. Er war an Maarten Schreibtisch stehengeblieben.
Maarten sah ihn an. Zum ersten Mal hatte er den Eindruck, dass Nijhuis sich viel härter gab, als er war. »Was hat die damit zu tun?«
»Sie vertritt Beerta.«
»Was sind das für Einwände?« Er unterdrückte seinen Widerwillen.
Nijhuis legte Veens Brief auf seinen Schreibtisch und zeigte auf einen Absatz. »In seinem Lebenslauf ist eine Lücke, sagt sie.«
Maarten sah sich den Absatz an, ohne zu verstehen, was damit gemeint war.
»Er ist mit einundzwanzig ins Lehrerseminar gegangen und hat mit achtzehn die Oberrealschule verlassen. Zwischen seinem neunzehnten und seinem einundzwanzigsten Lebensjahr ist also eine Lücke.«
»Dann habe ich in meinen Lebenslauf eine noch größere Lücke.«
»Sie findet das einen Grund zur Beanstandung. Und dann habe ich den Direktor des Lehrerseminars angerufen und von ihm erfahren, dass es ein Junge mit Idealen ist. Das können wir hier überhaupt nicht gebrauchen.«

Nur gelegentlich charakterisieren wenige zusammenfassende Sätze am Anfang einer Szene den Hintergrund, vor dem sie spielt. Alles das ist, wie bei Krimis, überaus leicht zu lesen. Man spaziert gleichsam durch den Text, auch ohne dass größere Spannungselemente aufgebracht werden, die einen zum nächsten Kapitel drängen. Das Leseerlebnis entspricht eher das einer Plauderei als einer hitzigen Diskussion. Und doch wird letztlich etwas Wichtiges vermittelt: siehe unten. Es ist auch nicht falsch, das Buch mit einer »Soap Opera« zu vergleichen, wie im Zitat des Noordhollands Dagblad auf der Rückseite des Buchcovers. Es hat diese Leichtigkeit — und verursacht eine gewisse Anhänglichkeit gegenüber den Hauptfiguren.

Ich will nicht unterschlagen, dass außer Szenen noch zwei weitere Textformen im Buch vorkommen: Sequenzen aus Maarten Träumen (auch Beerta erzählt von seinen Träumen, doch innerhalb von Szenen), und Briefe von Frans Veen, den Maarten bei der Arbeit kennenlernt, dessen scheues Leben jedoch bald eine andere Wendung nimmt.

Sinnlosigkeit und Verantwortung

Zweitens bietet Voskuils alltagsnahe Szenen und Beobachtungen eine gute Folie, vor der wir über unsere eigenen alltäglichen Anstrengungen nachdenken können. Warum nehmen wir vieles doch sehr wichtig und verbringen unsere Lebenszeit mit Dingen, die sich aus größerer Entfernung (oder bei einer plötzlich eintretenden Pandemie) geradezu lächerlich ausnehmen?

Maarten hält seine Arbeit also für sinnlos. Sie besteht zum Beispiel darin, Berichte über aussterbende Ausprägungen des Volks-Glaubens zu sammeln. Über Wichtelmännchen und wie die Nachgeburt von Pferden behandelt wurde — Themen also, über die man sich leicht amüsieren kann. Voskuil kostet das aus, aber letztlich denunziert er das Fach nicht. Es ist für ihn eher ein Beispiel (eines, das er aus eigener Erfahrung kennt) für das Tun des Menschen, das von jeher auch als »Windhauch« verstanden werden konnte. Im großen Maßstab. Sobald man jedoch den Alltag betrachtet und andere Menschen, ihre Arbeitsstellen, ihr Lebensgefühl und ihr Wohlbefinden in Rechnung stellt, ergeben sich Verantwortlichkeiten. Darum arbeitet Maarten trotz seiner Grundeinsicht gewissenhaft und nach den Regeln. Diese Haltung muss er gegenüber seiner Frau Nicolien verteidigen, der es lieber wäre, er würde nichts oder fast gar nichts tun und seine Zeit mit ihr und mit Freunden verbringen. Sie lehnt es ab, Verantwortung zu übernehmen — die einzige Ausnahme macht sie bei ihrer Katze.

Die Mystik des Alltags

Drittens entsteht die Kunst bei Voskuil aus der Fähigkeit, das Alltägliche ernst zu nehmen. Als Lektor bekomme ich nicht selten Lebensberichte zu lesen, aus denen alles Alltägliche gestrichen wurde, nur die vermeintlichen Highlights und nicht selten vor allem die Tiefschläge werden aus dem Fluss des Lebens gefiltert. Neun Zehntel des Lebens, das Aufstehen, Frühstücken, der Weg zur Arbeit, auch die Serien, die man schaut, die Bücher, mit denen man sich die Zeit vertreibt — all das scheint einer Autobiografie nicht würdig zu sein. Und doch besteht unser Leben vor allem daraus. Von Büchern wie diesem können wir lernen, dass die Schönheit des Lebens im Alltag zu finden ist:

Maarten saß am Schreibtisch. Das Fenster war einen Spalt geöffnet. Aus der Ferne drang gedämpft Verkehrslärm herein. Viertelstündlich spielten die Glocken der Zuiderkerk den Anfang einer Melodie. […]
Er nahm einen neuen Fragebogen aus dem Karton, der neben ihm stand, schlug ihn auf und las die Antwort auf die Frage, die er gerade bearbeitete. Frage: In welche Vorstellung kleidet man das Schläfrigwerden kleiner Kinder (Sandmännchen, Schlaffee, Schlafläuse). Antwort: Früher in ein Nachthemd, heute eher in einen Pyjama. — Es dauerte ein paar Sekunden, bevor die Antwort zu ihm durchdrang. Amüsiert blätterte er zurück, […]


Der Rhythmus, den Voskuils Prosa (ähnlich wie die von Karl Ove Knausgård) vermittelt, ist der unseres Lebens. Manchmal brauchen wir solche Bücher, um ihn uns wieder bewusst zu machen.

J.J.Voskuil: Das Büro, Band 1: Direktor Beerta
C. H. Beck Verlag, München 2012
Inzwischen verlegt (wie auch die anderen Bände) beim Verbrecher Verlag, Frankfurt/Main
(Erstausgabe: Amsterdam 1996)