Wenn Sie „Biografiearbeiter“ werden wollen oder einfach erfahren möchten, was Sie in einer biografisch orientierten Veranstaltung erwartet, sollten Sie zu diesem neuen Buch greifen:
Hubert Klingenberger und Erika Ramsauer: Biografiearbeit als Schatzsuche. Grundlagen und Methoden. Don Bosco Medien GmbH, 1. Auflage, München 2017. ISBN 978 3 7698 2241 0, Preis: 24,95 €. Hier können Sie das Buch bestellen (Autorenwelt-Shop).
Der Aufstieg des Wortes „Biografiearbeit“
Als Hubert Klingenberger 2003 sein Werk “Lebensmutig” veröffentlichte, war das Wort “Biografiearbeit” noch kaum bekannt. Im Untertitel fasste er deswegen das Programm knapp zusammen: “Vergangenes erinnern, Gegenwärtiges entdecken, Künftiges entwerfen”. Auch das bereits 1986 erschienene Buch “Auf meinen Spuren” von Herbert Gudjons, Birgit Wagener-Gudjons und Marianne Pieper trägt erst seit einer Neuauflage 2008 den Untertitel “Übungen zur Biografiearbeit”. Zuvor lautete er umständlicher: “Das Entdecken der eigenen Lebensgeschichte. Vorschläge und Übungen für pädagogische Arbeit und Selbsterfahrung”.
Heute ist unter Pädagogen und “Bildungsarbeitern” hinreichend bekannt, was unter “Biografiearbeit” firmiert. Entsprechende Bücher sind weniger erklärungsbedürftig. Das ist nicht zuletzt Klingenberger selbst und dem von ihm maßgeblich initiierten Verein Lebensmutig e.V., Gesellschaft für Biografiearbeit zu verdanken. Dessen Ziel ist es, das biografische Arbeiten innerhalb der Erwachsenenbildung zu fördern und den SeminarleiterInnen (TrainerInnen, DozentInnen) und Coaches, die hier arbeiten (möchten), Fortbildungen und ein Forum zu bieten.
Überblick und Buchreihe
Während sich der Begriff “Biografiearbeit” durchsetzte, wuchs auch die Literatur zu diesem Feld der Erwachsenenbildung an. Im Vorwort des neuen Buches „Biografiearbeit als Schatzsuche. Grundlagen und Methoden“, das Hubert Klingenberger kürzlich gemeinsam mit Erika Ramsauer vorlegte, heißt es darum:
Es ist also an der Zeit, die Ausweitungen und Differenzierungen wieder einmal zu bündeln und in einer Gesamtschau darzustellen. (Seite 7)
Parallel zu dieser Gesamtschau veröffentlicht Klingenberger eine komplette Buch-Reihe unter dem Titel „Praxis Biografiearbeit“, die bereits sieben Titel zählt, jeder zu einem bestimmten Praxisfeld: “Biografiearbeit mit Männern”, “Biografiearbeit in der Pflege” usw. (Solche Reihen scheinen in der Ratgeberliteratur zum Trend zu werden. Ich denke an Ortheils Schreib-Reihe im DUDEN-Verlag.) Im Folgenden beziehe ich mich nur auf das Überblickswerk.
Warum ist Biografiearbeit wichtig?
Zu dieser Gretchenfrage liefern Klingenberger und Ramsauer plausible Erklärungen. Die Lebenserwartung der Menschen ist gestiegen – wir können in unserem Leben auf mehr Jahre zurückblicken. Und wir haben mehr Zeit, zurückzublicken. Außerdem geben die Lebensläufe mehr zu denken, als es früher vielleicht den Anschein hatte: Die in festen Traditionen und wirtschaftlichen Zusammenhängen verankerte Normalbiografie ist auf dem Rückzug. Statt dessen gilt:
Wir werden zu Architekten und Baumeistern unseres eigenen Lebensgehäuses, zu aktiven Produzenten unserer Biografie. Jeder Mensch wird zu seinem eigenen „biografischen Planungsbüro.“ (Seite 66)
Die Lebensläufe entwickeln sich unberechenbarer, unsicherer und komplexer. Um sie gestalten zu können, ist „biografische Kompetenz“ (S. 68) gefragt. Sicherlich nimmt auch das psychologische Wissen in der Bevölkerung zu, das Bewusstsein der eigenen biografischen Gewordenheit. Und, was Klingenberger und Ramsauer nicht ausdrücklich erwähnen, was aber sicherlich im Hintergrund eine Rolle spielt: Um zu wissen, wer man ist, reicht es heute nicht mehr, auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen zu verweisen, auf Volks- oder Bevölkerungsgruppen, Kirchen oder politische Parteien. Die Frage nach der eigenen Identität ist schwieriger geworden – um sie zu beantworten, ist der Blick auf den eigenen Lebenslauf unumgänglich.
Die Biografiearbeit ist darum zu Recht zu einem wichtigen Baustein der Erwachsenenbildung geworden. Sie steht für ein Kernelement zeitgemäßer Bildung.
Wie ist das Buch aufgebaut?
Klingenberger und Ramsauer versprechen einen Überblick für Praktiker „in den unterschiedlichsten Bereichen der Begleitung von Menschen“ (S. 7). Dafür wählen sie eine Einteilung in fünf Kapitel und ein kurzes „Schlusswort“, das die notwendigen Kompetenzen angehender „Biografiearbeiter“ zusammenfasst.
Im ersten Kapitel fächern Sie auf, was die Biografie eines Menschen ausmachen kann. Die verschiedensten Aspekte des Lebens werden als „biografische Stränge“ angesprochen: Herkunft und wichtigste Beziehungen (soziale Biografie), Körperentwicklung und -verhältnis (Körperbiografie), Bildungs-, Glaubensbiografie usw. Die Arbeitsbiografie betonen sie als besonders entscheidend für das Selbst-Verständnis heutiger Menschen.
Im zweiten Kapitel geht es um den Begriff der Biografiearbeit und deren Bedeutung für die Bildung des Menschen:
Biografiearbeit eröffnet Menschen jeden Alters Möglichkeiten des Nachdenkens und Austausches über den persönlichen Lebenslauf. (S. 61)
Im dritten Kapitel werden fünf Theorien, man könnte auch sagen: psychologisch-weltanschauliche Schulen vorgestellt, in denen die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie eine wichtige Rolle einnimmt: Logotherapie, Philosophie der Lebenskunst im Sinne von Wilhelm Schmid, personale Systemtheorie nach Eckhard König und Gerda König-Volmer, Konstruktivismus und positive Psychologie. Auf eine kritische Wertung der einzelnen Denksysteme verzichten die Autoren, ebenso auf eine Begründung, wie es zu dieser Auswahl kam. Es geht ihnen vielmehr darum, Erkenntnisse und Theoreme dieser „Bezugstheorien“ herauszustellen, die für die praktische Biografiearbeit hilfreich sind. Da psychologische Schulen wie die Logotherapie und Vermittler philosophischer Traditionen und Einsichten auf dem „Bildungsmarkt“ präsent sind, ist es für Praktiker wichtig, Gemeinsamkeiten und Überschneidungen zu kennen.
Im vierten Kapitel geht es um das biografische Gespräch. Wer es anregen und moderieren möchte, sollte Grundkenntnisse über das episodische Gedächtnis besitzen und wissen, was unter einer Geschichte zu verstehen ist. Denn das Erzählen aus der Erinnerung ist die grundlegende Fähigkeit, auf das sich alle Verständigung über individuelle Lebensläufe stützt.
Das fünfte Kapitel widmet sich besonderen Herausforderungen, die im biografischen Gespräch zu zweit oder in Gruppen vorkommen: Scham, Schuld und der Umgang mit Krankheit und Tod.
Jedem Kapitel schließt sich eine Reihe pädagogischer Methoden an, insgesamt 52, zu denen auf den Internetseiten des Don Bosco Verlags auch Arbeitsblätter im DIN-A-4-Format gekauft und heruntergeladen werden können. So bietet das Buch nicht allein einen Überblick, sondern zugleich einen „Methodenkoffer“, der illustriert, wie Biografiearbeit in der Praxis gestaltet werden kann. Quer über das Buch verstreut finden sich außerdem Kästen mit Fragen zur Selbstreflexion, die den angehenden Biografiearbeiter dazu anhalten, sich schriftlich mit dem eigenen Leben zu beschäftigen. Literaturempfehlungen für alle angeschnittenen Themen ergänzen die „Gesamtschau“, und laden dazu ein, den jeweils eigenen Fragestellungen nachzugehen.
Gesamtschau, nicht Grundlegung
Ihr Ziel, einen Überblick über das erfreulich erweiterte und facettenreiche Praxisfeld der Biografiearbeit zu geben, erreichen Klingenberger und Ramsauer. In dieser Hinsicht findet sich wohl nur ein vergleichbares aktuelles Angebot auf dem Buchmarkt, der Sammelband „Ressourcenorientierte Biografiearbeit“, 2009 herausgegeben von Christina Hölzle und Irma Jansen, der etwas theorieorientierter daherkommt und ohne Methodenteil. Für bestimmte Zielgruppen und Handlungsfelder ist man auf die Einzelbände der Buchreihe „Praxis Biografiearbeit“ verwiesen.
Vielleicht in Sorge, die Bandbreite ihrer Darstellung einzuschränken, verzichteten die Autoren auf eine ausdrückliche Grundlegung. Stattdessen heißt es:
Die Biografiearbeit ist kein eigenständiges Handlungskonzept. Sie nutzt unterschiedlichste wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Quellen. Sie nimmt Bezug auf vielfältige Wissenschaftsdisziplinen und Handlungsansätze. (S. 99)
Ich bin mir nicht sicher, was mit einem „eigenständigen Handlungskonzept“ gemeint ist. Wo es um Bildung geht, befindet man sich doch stets in einem dichten Netz kultureller Vorprägungen und ethisch-politischer Rechtfertigungen. Warum sollte es aber nicht möglich sein, sich innerhalb des Spektrums der Schulen zu verorten, die das Nachdenken über die eigene Lebensgeschichte fördern und fordern?
An anderen Stellen des Buchs hat es durchaus den Anschein, als gäbe es diesen grundlegenden „Kern“ der Biografiearbeit, zumindest für die Autoren, eine gemeinsame Haltung, die auch die Arbeit der im Lebensmutig-Verein organisierten Mitglieder prägt. Aus diesem Kern fließen die „Prinzipien der Biografiearbeit“, die Klingenberger und Ramsauer im zweiten Kapitel vorstellen. Prinzipien wie Freiwilligkeit und Selbstbestimmung, die für alle Formen der Erwachsenenbildung gelten, oder die Ressourcenorientierung, die sich auch bei Hölzle/Jansen im Titel findet. Sie wird so beschrieben:
Biografiearbeit orientiert sich an den Erfolgen, Potenzialen und Kompetenzen der Teilnehmer/-innen und nicht an deren Problemen oder Defiziten. Natürlich finden diese Raum, sofern sie von den Teilnehmern/-innen […] angesprochen werden. Im Vordergrund der Biografiearbeit steht aber das „halbvolle Glas“. (S. 79f.)
Woher stammen aber diese Prinzipien? Im Kapitel „Menschenbild“ wird man fündig:
Die Biografiearbeit, wie wir sie hier vorstellen, orientiert sich zum einen am Menschenbild der humanistischen Psychologie. Zum anderen fließen – da dieser Ansatz der Biografiearbeit im kirchlichen Raum entwickelt wurde – Aspekte des christlichen Menschenbildes in das biografische Arbeiten ein. (S. 86)
Ganz versteckt, in Endnote 61, heißt es weiter:
Diesen [anthropologischen, S.K.] Ausführungen liegt die „Pädagogische Anthropologie“ Bruno Hamanns (2005), meines Doktorvaters und akademischen Lehrers (H.Kl.) zugrunde. (S. 197)
Mir hätte es besser gefallen, wenn Klingenberger und Ramsauer damit begonnen und die vielen „Bezugstheorien“ von Kapitel 3 entsprechend eingeordnet hätten. Warum sollte man so nicht zu einem „eigenständigen Handlungskonzept“ kommen? Doch hier beginnt und endet meine Kritik auch schon. Im Wesentlichen ist es eine Frage von Ordnung und Reihenfolge (ich kann meine philosophisch-gründelnde Ausbildung eben nicht ganz verleugnen.)
Biografiearbeit und biografisches Schreiben
Zuletzt möchte ich einen Punkt ansprechen, der mir besonders am Herzen liegt. Die Rolle des biografischen Schreibens, das im Buch von Klingenberger und Ramsauer als eine Methode unter vielen erscheint. Andererseits heißt es auf Seite 143 sehr schön:
Der Mensch ist von Natur aus ein „homo narrans“, ein erzählender Mensch, und er teilt im Erzählen etwas und vor allem auch etwas von sich selbst mit.
Wer ich bin und was ich erzählte, hängt eng zusammen. Und wir erzählen nicht nur anderen etwas: auch das Selbstgespräch, das wir ständig führen, die Gedanken, die wir wälzen, haben die Form von Geschichten. Ob wir in unserem eigenen Kopf die Rolle des Helds spielen oder die des Opfers, ob wir uns unserer Erfolge erfreuen oder mit unserem Schicksal hadern, bestimmt unser Leben in entscheidendem Maße. Darum ist das biografische Schreiben für mich die Königsdisziplin der Biografiearbeit. Im Schreiben können wir unserer Selbst-Gespräche habhaft werden, auf dem Papier treten sie uns gegenüber und lassen sich „bearbeiten“. Sehr viele Methoden der Biografiearbeit basieren auf dem Schreiben, das häufig vor allem aus praktischen Gründen zum Notieren verknappt wird.
Klingenberger/Ramsauer schreiben außerdem:
Das in der Biografiearbeit Erarbeitete soll festgehalten und gesichert werden. Es genügt nicht, „einfach so mal drüber geredet zu haben“. […] Notizen oder Erinnerungsankter helfen, die „geborgenen Lebensschätze“ nicht wieder zu verlieren. (S. 80)
Bilder, Collagen, Skizzen oder Gegenstände können die biografische Selbstreflexion stark unterstützen, den Übergang zur Kreativität erleichtern. Als Erinnerungsanker dienen sie jedoch nur für begrenzte Zeit (Forschungen dazu gibt es von Marigold Linton).
Die einzig dauerhaften Erinnerungsanker für unsere Gedanken (und zugleich Lebenszeugnis für andere) sind geschriebene Sätze und Geschichten.