Wenn unsere Persönlichkeit im Wesentlichen aus unseren Erinnerungen besteht, wächst sie dann nicht mit ihnen? Ist ein Lebensarchiv dann nicht das Nützlichste, was man sich vorstellen kann? Es unterstützt unsere Erinnerungsfähigkeit sowohl beim Schreiben und Sammeln als auch beim Benutzten. Und damit stärkt und schützt es unsere Identität.
Was ist ein Lebensarchiv?
Unter einem Lebensarchiv verstehe ich eine systematisch geordnete Menge persönlicher Aufzeichnungen aus dem und über das eigene Leben. Allzu stringent muss das System nicht angelegt sein, nicht vollständig verschlagwortet oder gänzlich einheitlich gestaltet. Damit von einem Archiv gesprochen werden kann, sollten die Aufzeichnungen jedoch leicht zugänglich sein. Ein Lebensarchiv ist mehr als ein Tagebuch oder ein Depot von Tagebüchern, die man behält, weil man sie eben nicht einfach wegwerfen kann. Es ist eine Ressource, etwas, worauf man regelmäßig zurückgreift, das man besucht und benutzt, um sich das eigene Leben immer wieder anzueignen und in seinem Verständnis zu wachsen. Eine Gedächtnis-Hilfe und ein Identitäts-Werkzeug.
Ihn diesem Artikel beschäftige ich mich mit zwei unterschiedlichen Varianten eines Lebensarchivs. Zuletzt ziehe ich ein kurzes Fazit.
Vera F. Birkenbihl: “Anti-Altersheimer”
Die leider vor einigen Jahren verstorbene Vera F. Birkenbihl kennt man als unorthodoxe Management-Trainerin mit dem Slogan „gehirn-gerechtes Arbeiten“. Im Ausgang von der Hirn- und Gedächtnisforschung entwickelte sie die Idee eines Lebensarchivs als Demenz-Vorsorge. In einem kleinen, sehr lesenswerten Büchlein stellt sie es vor: Das Anti-Altersheimer-Lebensarchiv, mvg-Verlag, München 2009, ISBN 978-3-86882-005-8.
Ihre Grundüberlegung ist einfach: Je stärker man sich mit einer Erinnerung beschäftigt, je mehr man von ihr erzählt, schreibt, sie wieder liest, neu erzählt, desto stärker wird sie in unserem Gedächtnis verankert. Statt »Trampelpfaden« entstehen »Autobahnen« im Gehirn, die auch dann noch befahren oder zumindest begangen werden können, wenn sie teilweise zerstört werden.
Birkenbihl: Das Anti-Altersheimer-Lebensarchiv, S. 12
Alzheimer wegdenken?
Birkenbihl bezieht sich auf die sogenannte Nonnenstudie von David Snowdon (Lieber alt und gesund. Dem Alter seinen Schrecken nehmen, Karl Blessing Verlag, München 2001). Snowdon fand heraus, dass die geistig rege Lebensweise der Nonnen im Durchschnitt nicht nur zu einem längeren Leben führt , sondern auch zu größerer geistiger Leistungsfähigkeit im Alter. Das Überraschende: Bei einigen Nonnen, die zu Lebzeiten keinerlei Symptome dementieller Einschränkungen zeigten, wurde nach dem Tod sogenannte »Plaques« im Gehirn entdeckt, die als ursächlich für die Alzheimer-Erkrankung gelten. Heißt das, geistige Tätigkeit schützt vor Alzheimer?
In den letzten Jahren geht man in der Alzheimer-Forschung davon aus, dass es andere Veränderungen im Gehirn gibt, die sogenannten Tau-Fibrillen, die zerstörerischer wirken als die Plaques. Die allzu optimistische Deutung der Nonnenstudie scheint also überholt. Trotzdem waren die Leistungen der Nonnen erstaunlich. Mittels geistiger Arbeit konnten sie sich der physiologischen Degeneration des Gehirns zumindest teilweise entgegenstellen. Birkenbihl schließt daraus, dass es sich in jedem Falle lohne, die eigene Persönlichkeit zu schützen, indem man sich mehr als üblich den eigenen Erinnerungen widmet. Indem man also ein Lebensarchiv anlegt.
Die Form des Lebensarchivs
Birkenbihl schlägt eine einfache, praktische Variante vor: Jeden Tag solle man ein bin zwei Ereignisse mit Überschrift und Datum schriftlich festhalten. Möglichst Ereignisse die einen Bezug zur eigenen Persönlichkeit haben, zu wichtigen Menschen oder einer bedeutsamen Arbeit. Diese Aufzeichnungen sollten dann sondern von Zeit zu Zeit durchgesehen werden, wobei man
Birkenbihl: Das Anti-Altersheimer-Lebensarchiv, S. 29
Auch wenn man wenig Zeit hat: Bloße Überschriften reichen nicht! Das betont Birkenbihl unter Rückgriff auf die Gedächtnis-Experimente von Marigold Linton (hier deren Originalveröffentlichung). Die Episoden, die man niederschreibt, sollten auf dem Papier Hand und Fuß haben und im Grundsatz auch von einem Fremden verstanden werden können. Während man es aus der frischen Erinnerung schreibt, kann man sich oft nicht vorstellen, was man alles vergessen wird. Es ist das meiste. Darum ist es wichtig, sich an diesen Grundsatz zu erinnern. Auch im Hinblick auf Texte, die später von Angehörigen verstanden werden sollten.
(Nebenbei: Birkenbihl stellt auch gesellige Varianten der „Altersheimer-Vorsorge“ dar, wie sie es nennt, Schreib- und Erzählspiele mit biografischem Inhalt.)
Hanns-Josef Ortheil: Schreib-Leben
Hanns-Josef Ortheil treibt die Idee des Lebensarchivs auf die Spitze. Den Schriftsteller Ortheil, der auch eine Geschichte seines Schreibens veröffentlichte (»Der Stift und das Papier«) könnte man als Schreib-Fanatiker bezeichnen. Seine beeindruckende Karriere umfasst auch eine Gründungsprofessur für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Für den Duden-Verlag gab er eine Reihe lesenswerter Schreibratgeber heraus. Drei davon, die sich mit dem autobiografischen Schreiben und dem Notieren beschäftigen, stammten aus seiner eigenen Feder.
In Schreiben über mich selbst. Spielformen des autobiografischen Schreibens (Duden-Verlag, Berlin 2014) unterscheidet Ortheil mehrere Formen autobiografischer Aufzeichnungen:
- Notate und Protokolle der Gegenwart im Sinne einer Dokumentation.
- Thematische Texte zu Vorlieben, Lektüren, Begegnungen usw.
- Ausgearbeitete autobiografische Erzählungen zu Schlüsselmomenten der eigenen Biografie, zur Kindheit, einer Liebe etc.
Er empfiehlt:
Ortheil: Schreiben über mich selbst, S. 148
Ein Lebensarchiv, das solche Elemente enthält, ist mehr als Demenz-Vorsorge, es ist eine Form von Lebenskunst, denn: „Wer ohne fixierte Erinnerungen lebt, formt und gestaltet sein Leben nicht.“ (S. 147)
Ortheil ist durchaus bewusst, wie viel Zeit und Engagement seine Vorschläge voraussetzen. Gegenüber praktischen Anforderungen des Lebens bleibt er, anders als die Management-Trainerin Birkenbihl, kompromisslos:
Ortheil: Schreiben über mich selbst, S. 146.
Fazit
Ein Lebensarchiv zu pflegen, ist eine wunderbar sinnvolle und identitäts-stärkende Tätigkeit. Das gilt auch für das Führen eines Tagebuchs. Ein Lebensarchiv geht über das Tagebuch hinaus, denn es ist so konzipiert, dass es sich leicht verwenden lässt. Indem man es immer wieder durcharbeitet, stärkt man das episodische Gedächtnis.
Ich berate meistens Nicht-Schriftsteller, die neben dem Schreiben auch viel anderes zu tun haben. Darum favorisiere ich einen pragmatischen Ansatz: Die Variationen und Differenzierungen zu kennen, die Ortheil aufzeigt, ist hilfreich. Man sollte sich jedoch nicht vor dem hohen Anspruch abschrecken lassen, den der Schriftsteller stellt.
In Bezug auf das letzte Zitat angeht, möchte ich Ortheil entschieden widersprechen: Lieber gelegentlich schreiben, als gar nicht. Lassen Sie es nicht bleiben!
(Eine Parallele: Auf der Suche nach einem ausgewogenen Fitnessprogramm könnten Sie einen Leistungssportler fragen oder einen Physiotherapeuten. Vermutlich bekommen Sie unterschiedliche Antworten.)
Wenn Ihnen das eigene Gedächtnis lieb ist, sollten Sie möglichst viel ausprobieren, was ihm aushilft und zu Ihnen passt. Neben dem Schreiben können Sie auch mit Fotoalben experimentieren (am besten durch aussagekräftige Unterschriften ergänzt), mit Ton- oder Bildaufzeichnungen und mit geselligen Spielen. Sammeln Sie die Ergebnisse und bewahren Sie sie auf.
Und dann, immer sonntags, besuchen Sie stolz Ihr Lebensarchiv und beschäftigen sich mit den Schätzen Ihrer Erinnerung.
2 Antworten zu “Lebensarchiv: Erinnerungs-Schätze pflegen”
Hallo Peter Kolar
Wenn ich deinen 25 Leitzordner vor mir sehe, so erinnere ich mich an das Büro sehe meines Paten, bei dem es ähnlich aussah. ER hat vor seinem Tod alle seinen säuberlich gesammelten Erinnerungen dem historischen museum seines Geburtsortes übergeben, wo sie nun in einem Keller schlummern. Ich hätte ihn SEHR gerne erzählen gehört oder in seinen Leitzordnern gelesen. Ich realisierte aber, dass er vor allem Ordnung macht, mit allem abschliesst und kein Chaos hinterlassen will. Das ist lobenswert. In mir blieb die Frage offen nach Bedeutung und Sinn dieser Arbeit. Er und ich waren da offenbar nicht gleicher Meinung.
Aus meiner Erfahrung schreibt man vor allem für sich selber, auch wenn man die Absicht hat, damit seinen Kindern und Enkeln etwas zu hinterlassen. Beim Schreiben lebst du nämlich innerlich noch einmal sehr nah in deinen vergangenen Erlebnissen. Vielleicht bist du auch mit zukünftigen Lesern verbunden, vielleicht sprichst du sogar halblaut mit ihnen beim Schreiben – aber jetzt, im Moment des Schreibens.
Wir haben immer nur das Jetzt. Was später mit dem geschieht, was ich (oder du) für andere bestimme und beabsichtige, habe ich überhaupt nicht in der Hand. Wenn du in intensivem Kontakt bist mit deiner Familie und sie gerne dem zuhören, was du zu erzählen hast, so tu es live (auch indem du live vorliest, natürlich) und so bald als möglich. Später kommt alles anders als du es dir jetzt ausdenkst.
Die Deinen mögen dein schriftliches Vermächtnis als äusserst wertvollen Schatz hüten, ja. Aber du bist dann nicht mehr da und hast null Einfluss darauf, was mit deinen Geschichten geschieht, ob sie gelesen und geteilt werden – oder einfach wie deine tote Asche in einer Schatulle gehütet. Die junge Generation hat ihr eigenes Leben, das viel von ihnen fordert. Was in ihnen an Wertvollem nachhaltig ist und sie weiterhin nährt, sind IHRE guten Erinnerungen an das Leben mit dir, nicht deine.
Sorry, ich will dir damit keinesfalls die Freude am Schreiben madig machen. Meine Botschaft ist: Geniesse den Moment des Schreibens und die Magie des Verbundenseins mit deinem inneren Archiv und deinen vorgestellten Lesern! Schreiben ist intensiv gelebtes Leben.
Liebe Grüsse
Mona
Hallo,
mein Name ist Peter Kolar und die Idee eines Lebensarchives verfolge ich schon seit vielen Jahren. Momentan umfasst es 25 Leitzornder und es wächst kontinuierlich. Es fängt an mit den Hinterlassenschaften meiner Eltern. Deren Heimat war der Böhmerwald, aus dem sie nach dem Krieg vertrieben wurden und 1946 in Hofheim am Taunus ankamen, wo 1950 ich geboren wurde. Aus diesen Unterlagen entstand 2019 das Buch “Vom Böhmerwald in den Taunus”, in dem ich die Familiengeschichte und die Erlebnisse meines Vaters nach seinen Tagebuchaufzeichnungen verarbeitet habe. Im Jahr 2020 und 2021 veröffentlichte ich gemeinsam mit zwei Jahrgangskameraden die Bücher “Dehaam, uff de Gass un in de Schul”, sowie “Im Verein, in de Kerch un im Kino – Mir wern erwachse”. Darin verarbeiteten wir unsere Kindheits- und Jugenderinnerungen im Hofheim der 1950er und 1960er Jahre.
Mittlerweile bin ich mit meinem Lebensarchiv im Jahr 1982 angekommen und arbeite kontinuierlich daran weiter. Parallel schreibe ich an meiner sehr persönlichen Biografie, verbunden mit einer gewissen Abrechnung und philosophischen Ausflügen. Das wird teilweise noch emotional aufrührender sein als mein Buch über die Familiengeschichte. Aber ich werde dran bleiben, wenn es vielleicht auch nur für mich und meine Nachkommen sein wird. Es ist nie verkehrt, sich selbst zu hinterfragen.
Gerne würde ich mich mit Gleichgesinnten austauschen.
Liebe Grüße, ihr/euer
Peter Kolar