Klaus Mann
Sie sind unsicher, ob Sie über Ihr Leben schreiben können? Ob Sie sich an alles Wichtige erinnern?
Ich kann Sie beruhigen: Lebenserinnerungen (im Sinne einer Art von Büchern) unterscheiden sich in der Regel stark von den tatsächlichen Erinnerungen ihrer Autoren. Das ist nicht falsch — nein, das ist sogar gut so!
Worum es hier geht
In diesem Artikel erkläre ich
- Was ich unter “Lebenserinnerungen” verstehe.
- Warum Lebenserinnerungen nicht nur aus Erinnerungen bestehen können.
- Weshalb Sie sich beim Schreiben Ihrer Lebenserinnerungen dennoch auf Ihre Erinnerungen verlassen können, und schließlich:
- Warum Sie Ihren Erinnerungen dabei nicht blind vertrauen sollten.
Das scheint Ihnen alles etwas widersprüchlich zu sein? Nun — lesen Sie einfach weiter.
1. Was verstehe ich unter Lebenserinnerungen?
Eine (literarische) Gattung ist eine bestimmte Art von Texten und Büchern. Zum Beispiel Romane, Sachbücher oder Gedichtbände. Die Unterteilung geht weiter: Es gibt Kriminalromane (Krimis), historische Romane, Fantasy- und Science-Fiction-Romane etc.
Auch die Gattung der autobiografischen Texte lässt sich weiter unterteilen. Was ihnen gemeinsam ist: Alle erzählen vom eigenen Leben des Autors oder der Autorin. Nur wie sie es tun, unterscheidet sich. In einer Autobiografie wird vom Leben als Ganzem berichtet, wobei die Kindheit und Jugend meistens eine prominente Rolle spielt. Denn es geht vordringlich darum, wie sich die eigene Persönlichkeit entwickelte. In einem Memoir wird ein bestimmtes Thema oder Ereignis in den Vordergrund gestellt, zum Beispiel eine Krankheit, eine (politische, persönliche) Zeit des Umbruchs oder wie man mit einem bestimmten Problem fertig wurde (und sei es die Flut an Plastikverpackungen).
Möchte man weder an die Form einer Autobiografie noch eines Memoir gebunden sein, bietet es sich an, statt dessen ganz allgemein von Lebenserinnerungen zu sprechen. Oder noch einfacher: Von Erinnerungen. So lautet zum Beispiel der Untertitel von Astrid Lindgrens autobiografischem Buch “Das entschwundene Land” (Oetinger, Hamburg 1977). Darin sind einzelne Aufsätze zusammengefasst, in denen sie ihre Kindheit und ihr Schreiben beleuchtet.
Einerseits ist »Lebenserinnerungen« also nur ein schöneres Wort für die etwas sperrige Bezeichnung »autobiografische Texte, Aufzeichungen etc.«. Andererseits: Wenn es in Buchtiteln vorkommt, signalisiert der Begriff »Lebenserinnerungen/Erinnerungen« eine Art Verzicht: Hier soll es nicht um eine Gesamtdarstellung des Lebens gehen. Auch eine gewisse Einfachheit kann gemeint sein. »Herbstmilch«, das berühmte Lebensbuch von Anna Wimschneider, wird deshalb vom Verlag nicht mit »Autobiografie einer Bäuerin«, sondern als »Lebenserinnerungen einer Bäuerin« beschrieben.
2. Warum bestehen Lebenserinnerungen nicht nur aus Erinnerungen?
»Einfacher« erscheinen Lebenserinnerungen, weil wir uns alle erinnern. Sich an Teile des eigenen Lebens erinnern und schreibend davon zu erzählen, scheint verhältnismäßig einfach zu sein. Jedenfalls verglichen damit, eine ausgearbeitete Entwicklungsgeschichte des eigenen Selbst vorzulegen. Und das ist nicht falsch.
Wenn Sie Lebenserinnerungen schreiben wollen, müssen Sie trotzdem mehr tun, als sich nur zu erinnern. Sie müssen ihre Erinnerungen in eine Form bringen, die für andere verständlich ist. Bilder, die in ihrem Kopf sind, müssen in Wörter und Sätze übersetzt werden. Auch wenn Sie nicht chronologisch erzählen wollen, also der Reihe nach, werden Sie irgendeine Ordnung wählen (einen roten Faden), damit die Leserin oder der Leser Ihnen folgen kann. Zu den Erinnerungen treten Erklärungen, griffige Formulierungen, Metaphern, Einschätzungen und mehr.
Außerdem ist der Prozess der Erinnerung vielschichtiger, als wir selbst wahrnehmen. Wenn Sie über Ihre Erinnerungen schreiben, wird das Gedächtnis angeregt, liefert mehr Material und Sie kommen »vom Hölzchen aufs Stöckchen«.
Manches andere, woran Sie glaubten, sich zu erinnern, zerrinnt Ihnen beim Aufschreiben zwischen den Fingern.
3. Kann man den eigenen Erinnerungen trauen?
Jede Erinnerungen, besonders wenn sie einen größeren Lebensabschnitt betrifft, ist eine aktive Leistung des Gedächtnisses im Hier und Jetzt. Es schafft einen Sinnzusammenhang, eine Geschichte oder Episode. Unser Gehirn funktioniert dabei völlig anders als ein Speicherchip im Computer. Ein Computerspeicher liefert beliebig oft genau denselben Inhalt. Dagegen verändert sich unser Gedächtnis bei jedem Erinnerungsvorgang. Aspekte, auf die es uns ankommt, werden verstärkt. Was keine Bedeutung zu haben scheint, wird vergessen.
Besonders lebendige Erinnerungen stehen in enger Verbindung zu unserer persönlichen Identität. Darum sind sie der ideale Ausgangspunkt für das Schreiben von Lebenserinnerungen.
John Kotre, Gedächtnisforscher
Wenn Sie ihre Lebenserinnerungen aufschreiben, tun Sie es also vor dem Hintergrund einer lebenslangen Vorbereitung des Gedächtnisses. Im Laufe Ihres Lebens haben Sie — bewusst oder unbewusst — immer wieder entschieden, was Sie für wichtig halten und sich daran erinnert. Jedes Mal, wenn Sie sich erinnerten, wurden bestimmte Aspekte betont, andere vernachlässigt und zuletzt vergessen. Sie haben also bereits eine Vorauswahl getroffen, die wohl nicht »alternativlos« war, aber die Ihre Persönlichkeit ausmacht. Und genau darum geht es beim autobiografischen Schreiben: Ihre Lebenserinnerungen müssen nicht aus vermeintlich objektiven Fakten bestehen, sondern aus Ihrer persönlichen Sicht auf die Dinge. Deshalb können Sie sich auf Ihre Erinnerungen verlassen — jedenfalls was die Auswahl betrifft und die Lebensthemen, über die Sie schreiben möchten.
4. Sollte man den eigenen Erinnerungen blind vertrauen?
Beim Schreiben der eigenen Lebenserinnerungen sollte man das Gedächtnis demnach als Freund betrachten, nicht als Gegner. Dennoch ist ein wenig Misstrauen angebracht. Erstens in Bezug auf historische Fakten und die Chronologie von Ereignissen. Zweitens in Hinsicht auf die eigene Entwicklung.
Wer den Gesprächen eines älteren Ehepaars lauscht, das sich über gemeinsame Erlebnisse unterhält, erfährt, dass man mit den Jahreszahlen ziemlich durcheinander geraten kann. »War das 1974 oder 1978?« »Wir wohnten noch in Mainz, glaube ich. Aber schon in der zweiten Wohnung?«
In einem Selbstversucht fand die Psychologin Marigold Linton heraus, dass das Gedächtnis die Ereignisse zunächst chronologisch ordnet. Wenn einige Wochen oder Monate vergangen sind, stellt es sie jedoch nach thematischen Gesichtspunkten um. Das heißt: Man weiß vielleicht noch, welche Orte in Italien man besuchte, aber nicht mehr, in welchem Urlaub. Die Urlaubserlebnisse werden zu einem »Thema Italien« zusammengestellt. Möchte man darum, Jahre später, über die Bedeutung Italiens für das eigene Leben schreiben, ist der Blick in den Kalender oder ins Fotoalbum sicherlich hilfreich. Vielleicht hilft es auch, einen Freund zu fragen, der nur beim ersten Mal dabei gewesen war.
Was die persönliche Entwicklung angeht, das heißt die Veränderung des eigenen Ich, kann die Erinnerung ebenfalls täuschen:
George Vaillant, Entwicklungspsychologe (meine Übersetzung)
Ich fand neulich ein Plakat, das ich in der 5. Klasse gestaltet hatte. Aufgabe war wohl, sich in der neuen Gruppe vorzustellen. Lieblingsfarben, Hobbys und so weiter. Ich wusste zwar, welchen Sport ich mit 11 Jahren betrieben hatte, war jedoch ziemlich erstaunt über meine Lieblingsfächer. »Kunst« hätte ich nie und nimmer vermutet.
Was fand ich mit 10, 20 oder 30 Jahren schön und wichtig? Wer über ein Tagebuch verfügt, das den Originalton des alten Ich ins Heute rettete, hat einen Vorteil. Doch man findet auch andere aussagekräftige Zeugen der Vergangenheit: Unterlagen, Briefe, Spielzeug. Oder man spricht mit Freunden und Familienangehörigen: »Wie war ich früher?« Auf diese Weise kommen Sie sich selbst besser auf die Spur — einer der interessantesten Aspekte beim Schreiben von Lebenserinnerungen.