Manuela Tulle studierte Sportwissenschaft mit den Schwerpunkten Rehabilitation und Behindertensport an der Deutschen Sporthochschule Köln. Mit 32 Jahren verließ sie ihren Mann und den Job in der Sportschule ihrer Schwiegereltern, um auf der Karibik-Insel Grenada ein neues Leben zu beginnen. Sie brach alleine auf. Ohne festen Plan.
Heute lebt sie in verschiedenen Welten. Sechs Monate im Jahr verbringt sie auf einem Segelboot in den Grenadinen und sechs Monate in Altweilnau im Taunus, dem Dorf ihrer Kindheit und Jugend.
Ich sprach mit ihr über die Rolle, die das Schreiben in ihrem Leben spielt.

Phasen des Lebens, Phasen des Schreibens

Stefan Kappner: Liebe Frau Tulle, in welcher Phase Ihres Lebens begannen Sie mit dem Schreiben?

Manuela Tulle: Das Schreiben über mich selbst hat erst begonnen, als ich aus der Ferne wieder zurück kam. Aber geschrieben habe ich schon als Teenager. Damals hörte ich gerne Liedermacher. Vor allem waren mir die Texte wichtig. Ich las sie auf den Plattencovern und Einlegern, bevor ich die Musik einschaltete. Ich spürte: Es sind zwei, drei Worte oder Liedzeilen, die etwas in mir bewirken. Dann fing ich an, zu schreiben. Ich weiß nicht, wie man diese Texte nennen könnte.

Waren es Gedichte?

Eher so etwas wie Gedankenfetzen. Es machte mir Spaß, meine Gedanken auf dem Papier zu sehen. In meiner Handschrift. Gedanken, die nicht von irgendjemand anderem kamen, sondern von mir selbst. Das fand ich schön.

Dann kam das Briefeschreiben. Briefe an Familienmitglieder aus dem Urlaub, das waren keine Wie-geht-es-Dir-mir-geht-es-gut-Briefe, sondern Beschreibungen von Landschaften und von Menschen, die ich kennenlernte. Ich wollte mich ausdrücken und teilen, wie schön das war, was ich erlebte.
Und dann ging in den Urlauben, mit 14 oder 15, das Verlieben los. Jetzt schrieb ich erst recht Briefe. Keine typischen Liebesbriefe – was auch immer typisch ist? Ich habe von meinem Leben erzählt. Und mich mit meinen Briefpartnern ausgetauscht. Wie ich über Dinge dachte, was ich schön fand oder nicht mochte, an der Schule zum Beispiel. Was ich statt dessen lieber getan hätte. Dabei war es mir immer wichtig, das der Jeweilige auch mit der Hand zurück schrieb. Das gefiel mir. Auch der Moment des Briefe-Öffnens. Das war alles Teil des Schreibens.
Mein Vater schätzte das geschriebene Wort und schrieb auch schöne Briefe an mich, als ich nicht mehr zu Hause wohnte. Wenn ich den Brief aus dem Kasten nahm und die von seiner Hand geschriebene Adresse sah, freute ich mich schon. So tauschten wir uns aus. In einer stillen Unterhaltung.
Noch immer schreibe ich alles per Hand, bevor ich es möglicherweise in den Computer tippe. Weil ich das Geschriebene gern in einer ansprechenden Form sehe, kaufte ich mir schöne Journals.

Ich merkte, dass das Schreiben auch dann stattfand, wenn ich nicht in Ruhe zu Hause saß, sondern unterwegs war.
Einmal, ich war vielleicht Anfang 20, fuhr ich im Auto und hatte eine Idee, die ich sofort notieren wollte. Also schrieb ich sie auf meine Jeans.
Heute habe ich immer ein kleines Notizbüchlein im Anorak. Vor drei Wochen fiel mir ein winziger Text ein, als ich durch denselben Wald ging, durch den ich so oft mit meinem Großvater spaziert war, um Pilze zu sammeln oder Rehe zu beobachten. Inzwischen wurde abgeholzt, viele Tannen sind abgestorben. Dennoch waren die Erinnerungen an meinen Großvater so stark, dass ich sie aufschreiben musste.

Schreib-Orte

Sie leben eine Hälfte des Jahres im Taunus, die andere in der Karibik. Wie wirken sich diese völlig unterschiedlichen Orte auf Ihr Schreiben aus?

Nicht allein aufs Schreiben, sondern auf mein ganzes Denken.

An beiden Orten fällt mir das Ankommen schwer. Wenn ich von hier nach dort fliege, nehme ich bestimmt noch für zwei Wochen in Gedanken Menschen mit, meine deutschen Patienten mit ihren Beschwerdebildern sitzen dann mit mir in der Karibik unter Palmen.
Langsam merke ich dann, wie mein Schreiben mehr Farbe bekommt, leichter wird, weil auch meine Umgebung dort so ist. In der Karibik beginne ich meine Tage im hellen Licht und in der Natur. Das kleine Cottage, in dem ich bis vor einer Weile lebte, besaß keine Fenster, nur einen Moskitovorhang. Also hört man Naturgeräusche, spürt den Wind, schmeckt die salzige Luft – so fallen auch die ersten Gedanken aufs Blatt. Drei Texte, die mir sehr am Herzen liegen, sind auf diese Weise entstanden. Ich saß im Garten und wartete auf das, was mir in den Sinn kommen würde. Was kam, war ein kleines Leguanbaby, es wird bloß einige Wochen alt gewesen sein, das auf meinen Stuhl kletterte und sich auf die Armlehne setzte. So begann ich zu schreiben. Davon, wie ich den Leguan betrachtete, die Adern unter seiner Haut. Wie er umgekehrt mich beobachtete. Irgendwann war der Text fertig.
Nun läuft einem im Taunus selten ein Leguan über den Weg, also schreibe ich hier, weil ich jeden zweiten Tag durch den Wald jogge, bis zu einem kleinen Weiher, über den Herbst und die Vergänglichkeit. Oder die Andersartigkeit der Menschen. Diese Texte besitzen eine andere Färbung.

Heimatlandschaft: Auf diesem Waldweg war Manuela Tulle schon als Kind unterwegs.

Spielt hier die Erinnerung eine größere Rolle?
Zwei oder drei längere Texte sind in Grenada im Rückblick auf meine Kindheit entstanden. Wodurch die Erinnerungen dort ausgelöst wurden, weiß ich gar nicht mehr.
Hier vermisse ich nach zwei Wochen das Im-Freien-leben. Dann muss ich alle Fenster öffnen, die Räume werden mir zu eng. Ich versuche, im Garten zu schreiben. Doch die Geräusche stören mich und was das Dorfleben mit sich bringt. Die Eingewöhnung dauert. In warmer Umgebung fühle ich mich wohler und bewege meinen Körper leichter. Und scheinbar auch meinen Geist.

Die Erinnerungen sind wohl überall und benötigen nur einen kleinen Anstoß. Sie brauchen nicht die Gegenwart des Elternhauses.
Nein, absolut nicht.

Schreiben in zwei Sprachen

Sie schreiben auf Deutsch und auf Englisch. So wie es den beiden Lebensorten entspricht. Dazu kommt, dass Ihr jetziger Mann Amerikaner ist und das Englische daher im Alltag sehr präsent. Welche Unterschiede gibt es zwischen den Sprachen?
Am Anfang habe ich mich zwingen wollen, deutsch zu schreiben. Weil ich dachte: Das ist meine Muttersprache, in der ich ein größeres und variantenreicheres Vokabular zur Verfügung habe. Doch dann musste ich mich zwingen, es aufs Papier zu bringen. Ich dachte in englischsprachigen Umgebungen einfach auch Englisch und fühlte mich eingeengt, wenn ich mich aufs Deutsche versteifte. Also beschloss ich: Jetzt schreibst du so, wie es fließt. Ich setze mich nicht mehr unter Druck.
Wenn ich tiefer über Dinge nachdenke und von Emotionen schreibe, vor allem von den liebevollen, und wenn ich in poetischer Stimmung bin, schreibe ich eher auf Englisch. Es fiele mir auch schwer, diese Gedanken zu übersetzen.

Was ich als kleines deutsches Kind erlebte, bleibt deutsch.

Wenn ich an die Kindheit zurückdenke, möchte nichts in mir Englisch schreiben. Die Sprache war damals noch nicht präsent, darum kommt sie auch nicht in der Erinnerung vor. Erst mit den englischen Songtexten fängt es wieder an, die ich als Jugendliche hörte.

In den letzten drei Monaten, in denen ich hier war, schrieb ich nur noch deutsch, und fand es schade, dass mein Mann so wenig davon verstand. Er spricht leider nur ein bisschen Deutsch. Als er mich nach Erinnerungen aus meiner Kindheit fragte, schrieb ich sie auf englisch nieder. Doch das fühlte sich so an, als beschriebe ich ein anderes Kind.
Ich erinnere mich auch noch an die ersten Briefe, die ich aus Amerika und dann aus Grenada nach Hause schrieb. Ich merkte gar nicht, dass ich darin ständig die Sprache wechselte. Erst meine Eltern machen mich darauf aufmerksam. Mein Vater kaufte sich dann ein Wörterbuch, auch weil er uns besuchen wollte.

Teenagerzeit ist (noch) kein Thema

Wann begannen Sie mit dem autobiografischen Schreiben?
Ich besuchte vor einigen Jahren ein Seminar zum meditativen Schreiben. Der Leiterin dort war wichtig, dass man den Mut habe, »Ich« zu schreiben. Sie verwendete das Bild vom inneren Kind und bestand darauf, dass ich mit der Stimme des Kleinkindes zu mir als erwachsener Frau spreche. Das fiel mir schwer, gefiel mir auch nicht sonderlich, so dass ich mich entschied, über Phasen zu schreiben, an die ich mich besser erinnere und mit denen ich mich wohl fühle. Das waren erste biografische Ansätze.
Die Erinnerung an Geschichten aus meinem Leben und das Schreiben darüber begann erst durch Sie und Ihr Angebot der biografischen Beratung.

Jetzt merkte ich zum Beispiel, dass die Erinnerung nicht chronologisch funktioniert.

Mein Versuch, mich im Schreiben methodisch vorzuarbeiten, war frustrierend. An bestimmte Phasen konnte ich mich einfach nicht erinnern. Die Kindheit selbst war leicht zu erinnern, weil da so viel Schönes passiert ist. Mein Großvater vor allem hat mir so viele Möglichkeiten eröffnet, Dinge zu entdecken. Und ich war neugierig. Meine Mutter zeigte mir kleine Schwarzweißfotos. Darauf bin ich als Baby auf dem Arm meines Großvaters. Er lief mit mir durch den Garten, bog einen Zweig nach unten, damit ich ihn berühren konnte. Bei ihm durfte ich auch schmutzig sein, mit der Erde in Kontakt kommen. Wir saßen zusammen auf der Wiese und im Blumenbeet.
Über die Phase der Teenagerin wollte ich nicht schreiben. Ich sagte mir, dass ich viel zu brav und angepasst war. Erst in der Auseinandersetzung mit anderen, auch mit Müttern, deren Kinder im Teenageralter sind, merkte ich: Es gab nie Streit, weil ich nicht auf den Boden stampfte und nichts Unvernünftiges tat.

Ist das nicht vielleicht nur ein Bild, das heute nachträglich vermittelt wird, dass man nämlich in der Jugend rebellisch sein soll, geradezu muss? Was doch den Wert der Rebellion indirekt wieder in Frage stellt.
Natürlich denke ich aus der Perspektive der erwachsenen Frau zurück. Woran ich mich aber gut erinnere, waren die Interessen, die ich hier im Dorf nicht weiter verfolgen konnte. Das fing mit den Liedermachern und der Musik an. Die zog mich nach – Woodstock! Dieses Festival kannte ich von der Schallplatte und einem Dokumentarfilm im Fernsehen. Die absolute Freiheit dort beeindruckte mich, hier konnte ich sie nicht leben.

Sie gehören zu einer Generation nach Woodstock.
Mein erster Freund war dann auch sieben Jahre älter als ich. Da war ich gerade 15. Meine Gleichaltrigen interessierten mich nicht. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich irgendwie unpassend. Die Tanzveranstaltungen auf dem Dorf fand ich schrecklich. Mein Freund war glücklicher Weise Musiker und konnte uns Tickets für Konzerte besorgen, die in Frankfurt stattfanden. Dort gefiel es mir, wenn es mich auch sonst an die stilleren Orte zog, in Buchläden oder zu einem Zwiegespräch unter Freunden. Auf großen und lauten Partys blieb ich nie lange.

Denken Sie, dass Sie über diese Phase Ihres Lebens auch einmal schreiben werden?
Vielleicht nicht als Geschichte, sondern in einem Brief: »Was ich Euch immer schon sagen wollte«. Ein Brief, der sich nicht unbedingt an meine Eltern richten würde, sondern an mein gesamtes Umfeld, dem ich nicht laut gesagt habe, wie es mir ging.

Als nachgeholte Rebellion.
Die habe ich ja schon nachgeholt. Ich hatte sie schon im Rucksack. Zuerst zog ich fort von meinem Elternhaus, des Studiums wegen. Und später, in meiner neuen Familie, der meines Mannes, spürte ich allmählich, was ich auch nicht will: Zu leben, um zu arbeiten. Zwar lernte ich viel. Ich war von einem behüteten Beamtenhaushalt in einen Geschäftshaushalt gekommen und lernte, zu organisieren, Angestellte zu führen, vor Menschen aufzutreten.

Doch zog es mich stets woanders hin als dort, wo ich vernünftiger Weise den nächsten Schritt machen sollte.

 

Manuela Tulles Strand-Collage aus karibischen Fundstücken

Über das Recht, zu schreiben

Spielte das Schreiben in dieser Zeit eine Rolle? Als stiller Freund, im Tagebuch, oder als Zukunftsvision?
In meiner Sportschul-Zeit schrieb ich nie. Dazu fehlte die Ruhe. Stattdessen las ich Reisebücher. Doch das Schreiben als Möglichkeit blieb immer in mir, wurde bloß zurückgedrängt von den Schwerpunkten, die andere Menschen setzten und denen ich mich anpasste. Bis es dazu kam, dass ich mitten im Arbeitsleben einen Punkt setzte und etwas veränderte. Ich verkürzte meine Arbeitszeit und schrieb mich an der Fern-Universität ein. Für den Studiengang »Vergleichende Literaturwissenschaft«. Zwar wusste ich nicht recht, was in diesem Fach gelehrt wurde und was ich erreichen wollte, doch »Literatur« stand im Titel, also musste es etwas mit Büchern zu tun haben. Und ich musste mit Menschen zusammenkommen, welche meine Liebe zum geschriebenen Wort teilten. »Wie willst du damit Geld verdienen?«, fragten meine Schwiegereltern. Daran dachte ich nie.

Ich wollte etwas Zweckfreies machen dürfen. Noch heute macht es mich ärgerlich, wenn jungen Künstlern gesagt wird: »Davon kannst du nicht leben!«

Mit meinem Wunsch fühlte ich mich allein gelassen, doch ich hielt an meinem Entschluss fest. Ich studierte zwei Semester lang, schrieb aber noch nicht selbst. Ich dachte, ich müsse erst von anderen lernen, um gut genug zu werden.

Die Wettbewerbs-Ideen von »besser« und »schlechter«, der Gedanke, sich erst das Recht zum Schreiben erarbeiten zu müssen, bestimmte Sie weiterhin?
Ja, noch lange. Erst jetzt, vielleicht zum ersten Mal vor einem Jahr, sage ich zum Beispiel: Dann und dann kann ich nicht, weil ich schreibe. Das traute ich mich nie. Schreiben war im Urteil der anderen so etwas wie Häkeln. Etwas für trübe Tage, dann legt man es wieder beiseite.
Doch obwohl ich mich nicht ganz zum Schreiben bekannte, war es mir sehr wichtig. Ich erkundigte mich, bevor ich endgültig nach Grenada flog, ob die Fern-Universität das Material auch in andere Länder schicken könne. Ja, das sei möglich, antwortete man mir, und ermutigte mich auch, das Studium fortzusetzen. »Die Prüfungen können Sie an jedem Goethe-Institut in der Welt ablegen.« Das nächste Goethe-Institut, von Grenada aus, befand sich in Caracas, in Venezuela. All das hatte ich geplant, aber niemand davon erzählt. Zu gehen war schon verrückt genug. Dann noch zu denken, ich könne auf Grenada vergleichende Literaturwissenschaft studieren und die Prüfungsklausuren in Caracas schreiben … Doch so stark war mein Verlangen!
Als ich tatsächlich dort war, musste ich mich zuerst um mein Überleben kümmern, Geld verdienen – und stellte das Schreiben wieder hinten an. In Briefen beschrieb ich mein Leben auf der Insel.
Und ich fand neue Bücher. Häfen sind wunderbare Bücher-Orte, denn die Segler tauschen sie unter sich aus. Beim Hafenmeister steht ein kleines Regal in der Ecke, in dem neues Lesefutter steht.
Und jetzt, auf dieser kleinen Insel, traf ich auch Menschen, denen ich mich zugehörig fühlte. Menschen, die mir die Welt nahe brachten, die Reise- und Sehnsuchtsbücher lasen, Künstlernaturen, Schriftsteller, Musiker, Nomaden. Auf Grenada war nichts organisiert, vorgeplant und abgesichert.
Viele sagten von sich selbst, dass sie Künstler seien. Als eine Schulfreundin mich einmal besuchte, malte sie am Strand.
»Oh, you’re an artist«, sagten die Passanten.
»Naja, ich male halt gerne«, antwortete sie.
Dabei malt sie sehr gut. Vor der Bezeichnung »artist«, »Künstlerin« hatte sie als Deutsche zu viel Respekt.

Bekommt das Schreiben in einem solchen Umfeld einen anderen Stellenwert?
Ja. Da wurde nie gefragt, wie man davon in Zukunft leben möchte. Diese Frage stellte man nicht, weil man sie täglich und bei allem stellen konnte. Selbst »produktive« Arbeit reichte ja kaum, um zu überleben.
Als ich schließlich meinen späteren amerikanischen Mann traf, Steve, lernte ich die amerikanische, vielleicht auch nur kalifornische oder womöglich nur spezielle Art seiner Familie schätzen, alles Neue erst einmal zu begrüßen. Von ihm ist kein »aber« zu hören, wenn ich von einer neuen Idee spreche, sondern nur Unterstützung. Das hätte ich mir schon als Teenager gewünscht. Unterstützung statt Zweifel. Wenn ich später merke, das die Idee nicht funktioniert, habe ich eine Erfahrung mehr gemacht. In Steves Welt ist grundsätzlich alles möglich, dann probiert man aus, um zu spüren, ob es hält, was es verspricht. Wenn es niemand je zuvor machte, ist man Pionier. Dann guckt man eben, ob es funktioniert. So habe ich es auch bei Steves Geschwistern erlebt, bei seinen Freunden, nicht nur in Kalifornien, auch in anderen amerikanischen Staaten. Niemals wird eine Idee durch bloße Zweifel zunichte gemacht.

Das ist schön fürs Schreiben. Jedes Schreiben ist ja auch eine Pionierleistung. Erst, wenn man sich aufs Blatt begibt und in die Zeilen geht, merkt man doch, worauf es hinausläuft.
Ja, das ist schön. Doch noch immer würde ich mich nicht als Schriftstellerin bezeichnen. Ich stelle zwar die Schrift aufs Papier. Klar habe ich noch nichts veröffentlicht. Meine Texte in gebundener Form zu sehen, wäre toll, doch zunächst mal bin ich froh, zu schreiben. Es hat lange gedauert, bis es so weit war. Und noch immer suchen mich die Zweifel heim und ich frage mich: »Kann ich es denn?«

Das Schreiben des Körpers

Sie arbeiten als Bewegungstherapeutin und haben erzählt, dass Patienten nach Unfällen oder Operationen sich die jeweilige Bewegung erst einmal wieder zutrauen müssen. Muss man sich fürs Schreiben die nötige Bewegungsfreiheit nehmen?
Ja, ich sehe so viele Parallelen zwischen dem menschlichen Körper und dem Schreiben. Als Sie mich gefragt haben, ob wir uns über den Zusammenhang zwischen Leben und Schreiben unterhalten könnten, fielen mir gleich zwei Dinge ein: Atmen und Bewegungstherapie.

Ich atme die Welt ein, die mir begegnet, dann atme ich wieder aus. Doch zwischen dem Ein- und dem Ausatmen liegt eine Pause, in der sehr viel passiert. Beim Schreiben nehme ich Dinge auf, in der Pause setzten sie sich – bilden ein Sediment – und schließlich atme ich aus, schreibe und es wird offenbar, was in mir aus den Dingen geworden ist.

Das Schreiben erinnert mich auch sehr an die Bewegungstherapie.

Mit dem Stift in der Hand gehe ich aufs Blatt Papier, meine Hand bewegt sich und ich spüre: Hier sind Verhärtungen, dort bin ich unbeweglich, ich muss mich erst warm schreiben, atmen, damit sich Blockaden lösen können. Schreib-Blockaden: Da hänge ich an einem Stück Text wie an Gewebe, das ich mit Aufmerksamkeit dazu bringen muss, nachzugeben. Dann wird alles weich und fließt. Bewegung und schreiben: Beides ist Leben. Leben ist für mich Schreiben. Nicht schreiben zu können ist wie nicht atmen zu können.

Manuela Tulle, vielen Dank für diese Gedanken.