Wenn man aus der riesigen Menge von Erfahrungen, die einen Menschen ausmachen, ein Motiv auswählt, um es zum Titel von Erinnerungen zu machen, sollte man präzise vorgehen. Auch bei der Übersetzung. Der Originaltitel von Paula Fox’ »Memoir« lautet: »Borrowed finery«, also nicht »Fremde Kleider«. »Finery« bedeutet eher »Putz« oder »Aufputz«, bezieht sich also auf eine besondere Art von Kleidung, Sonntagskleidung oder solche, die man an Festtagen trägt. »Geborgter Aufputz« wäre also passender oder »Geborgte Sonntagskleider«.

Tatsächlich erzählt die Romanschriftstellerin Fox von einigen Situationen, in denen geborgter oder geschenkter Aufputz eine Rolle spielt, darunter die erste Szene, die der Folge von Kapiteln vorangestellt ist, die allesamt die jeweiligen Aufenthaltsorte des Kindes und der Jugendlichen Paula Fox bezeichnen. In dieser Szene trägt sie ein »dickes blaues Tweedkostüm«, viel zu dick für das kalifornische Klima, sie ist arm und allein, mit 17 Jahren gestrandet in Los Angeles.

Auch zu Beginn des ersten Kapitels ist von Kleidern die Rede. Pfarrer Elwood Amos Corning, der Fox als Kleinkind zu sich genommen hatte, nachdem ihre Eltern sie in einem »Findelhaus« abgaben und ihre Großmutter sie von dort wieder abholte. Paula trug viele Kleidungsstücke, die von den Müttern der Gemeinde gespendet wurden, denn auch der Pfarrer war arm, doch vor ihrem fünften Geburtstag schickte ihr Vater etwas Geld, sodass Elwood für sie ein Sonntagskleid »aus Tüpfelmusselin« kaufte, mit dem sie in der Kirche ein Gedicht aufsagen konnte.

An dieser Stelle erwartet der Leser, nun einer langen Reihe von »geborgten Kleidern« zu begegnen, die Fox’ Lebensstationen illustrieren. Doch diese Erwartung (für mich auch nicht besonders attraktiv), wird nicht erfüllt. Fox erzählt vielmehr anhand der Häuser und Orte, an die sie »verfrachtet« wird, wie es treffend im Klappentext heißt, und der Menschen, die auf sie aufpassen sollen. Grund für Paulas Odyssee ist ihre Mutter, eine Schauspielerin, die sie mit 19 geboren hatte, aber partout nichts mit ihr zu tun haben will. Ihr Vater, ein Drehbuchautor und Quartalssäufer, fügt sich dem Willen der Mutter. Seine Anfälle von Verantwortungsgefühl führen zu nichts, höchstens zu einem weiteren Ortswechsel Paulas. Denn die beiden führen ein unstetes Leben. In die Geborgenheit des Elwoodschen Hauses, in dem sie ihre ersten fünf Jahre verbracht hatte, durfte sie nie mehr zurück. Statt dessen wurde sie bei Großeltern, Verwandten und Freunden herumgereicht.

Thema von Fox’ Erinnerungen sind also weniger die Kleider, ihr Symbolpotential läuft höchstens mit, sondern ihre Heimatlosigkeit und vor allem das Verhalten ihrer Eltern. Die Virtuosität des Buchs besteht darin, dass wir als Leser ebenso unvorbereitet und ohne Begründung von Ort zu Ort mitgenommen werden wie das Kind, insgesamt 11 Stationen und Kapitel. Zu Beginn verstehen wir nicht warum, verlieren gelegentlich den Faden in den eindrücklichen Beschreibungen von Orten und Menschen, und achten deshalb besonders, wie das Kind, auf die Signale der gelegentlich auftauchenden Eltern. Das Bild fügt sich nach und nach, und im gleichen Maß steigt Spannung und Lesetempo. Jedenfalls bei mir was das der Fall. So bedauerte ich es nach den knapp 300 Seiten, die siebzehnjährige Paula, die uns zu Beginn im blauen Tweetköstüm begegnete, nicht noch etwas länger begleiten zu dürfen. Ging die Zeit der geborgten Sonntagskleider vorbei, nachdem sie von ihren Eltern offenbar völlig alleine gelassen wurde? Das erfahren wir nicht.

Das letzte Kapitel, nicht mehr als acht Seiten, erzählt davon, wie Fox ihre 92 Jahre alte Mutter besucht, und von ihrer Tochter Linda, die sie zur Adoption frei gab und erst als Erwachsene kennenlernte. Mit diesem Schlusspunkt betont sie das Thema des weiblichen Erbes:

Was mir in all den Jahren meines Lebens gefehlt hatte, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Linda und ich uns trafen, war eine bestimmte Art von Freiheit: ohne Angst zu einer Frau aus meiner Familie sprechen zu können. (S. 286)

Wäre nicht ein Titel passender gewesen, der auf dieses zentrale Thema verweist? Vielleicht auf ihre Mutter oder eben auf jene Beziehungslosigkeit in der weiblichen Linie. Vielleicht steckt es, ein ganz klein wenig, im Kleider-Motiv, sofern Sonntagskleider typischerweise von Müttern und Töchtern gemeinsam ausgesucht werden? Ich vermute, Fox vermied eine deutlichere Ankündigung im Titel, um ihn nicht sentimental klingen zu lassen. Denn ihre Erinnerungen sind gänzliche unsentimental — auch darin liegt ihre besondere Qualität — und lassen uns mit dem Kind Paula mitfühlen, ohne das Verhalten der Eltern oder anderer »Figuren« moralisch zu bewerten. Eher wird es, wie auch die eigenen Reaktionen, verwundert zur Kenntnis genommen.

Paula Fox: In fremden Kleidern. Geschichte einer Jugend. Verlag C.H. Beck, München 2003. Englische Originalveröffentlichung 1999.