Ein vielbändiges Werk

Peter Härtling starb am 10. Juli dieses Jahres (2017). Ich kannte ihn vor allem wegen seiner wunderbar ehrlichen Kinderbücher (vor allem »Ben liebt Anna« (1979); »Sophie macht Geschichten« (1980), die ich gerne meinen Töchtern vorlas) und als Autor eines Hölderlin-Romans. Außerdem wusste ich, dass er viel über Musiker geschrieben hatte. Daher war ich ein wenig erstaunt (und betroffen), als in einem Nachruf des Radiosenders hr2 besonders des autobiografischen Werks von Härtling gedacht wurde. (Sein Schaffen geht über diese drei Schwerpunkte noch hinaus: Er hat auch viele Gedichtbände publiziert und »nichtbiografische« Romane.)

Nun musste ich schnellstens daran gehen, das im Nachruf sehr gelobte autobiografische Werk Härtlings zu erkunden. Es besteht aus diesen Büchern:

Es wäre reizvoll, die den unterschiedlichen Themen und Zeitabschnitten angepassten Herangehensweisen in diesen Büchern zu vergleichen. Doch vorerst reichte die Zeit nur für die Lektüre des schmalen, nur etwa 150 Seiten dicken »Zwettl«. Doch diese Seiten haben es in sich — die Lektüre sei jedem wärmstens empfohlen, der sich für das Genre interessiert.

Zwettl

Das Buch handelt von der Zeit, die Peter Härtling in dem Ort Zwettl in Niederösterreich verbrachte. Etwa ein Jahr, am Ende des Krieges. Peter war noch keine zwölf Jahre alt, als die Familie Härtling fliehen musste. Zwettl, vom Vater ausgesucht, wurde zu einer Zwischenstation. Im Juni 1945 starb der Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, die Mutter wurde vergewaltigt und beging kurze Zeit später Selbstmord. Der in zu kurzer Zeit aus seiner Kindheit entlassene Härtling versucht, sich irgendwie zu orientieren. Er beobachtet, hält aus, kämpft, lebt weiter.

Für Härtling war es bestimmt auch nach den gut zwanzig Jahren, die Anfang der Siebzigerjahre vergangen waren, nicht leicht, über diese Erfahrungen zu schreiben. Er bewältigt die Aufgabe, indem er alle Urteile beiseite lässt und tut, was der Untertitel verrät. Er überprüft seine Erinnerung, besucht Zwettl, stellt Fragen. Die bloß gespielte Gewissheit lückenlos erzählter Vergangenheit ersetzt er durch die Klarheit, die sich einstellt, wenn alle Verluste auch also solche benannt werden. Zu den realen Verlusten treten Erinnerungsverluste, und das, so lese ich manche Passagen, kann auch gut und heilsam sein.

Die Klarheit und Ehrlichkeit von Härtlings Selbst-Überprüfung drückt sich auch sprachlich aus. Etwa wenn er sich korrigiert und gerade in der Doppelung präziser wird als er es durch einfaches Benennen sein könnte:

die Stube ist, ich konnte es ausrechnen, als ich durch das Fenster schaute, auf meinem unsicheren Streichgang über die Pawlatschen im Jahre 1971, etwa dreimal vier Meter groß, zwölf qm,
sie richteten sie ein,
sie haben sie nie eingerichtet, es sich einige Dinge hinzugekommen, zufällig

Härtling nimmt uns als Leser mit, während er über seine Zeit in Zwettl nachdenkt. Er schreibt nur »ich«, wenn er das Subjekt der Erinnerung ist. Schließt er nur auf das Leben, das er als Junge geführt haben muss, schreibt er in der dritten Person:

diese Gegenstände sehe ich noch deutlich vor mir: sie müssen ihn vergnügt, er muß oft mit ihnen gespielt haben

Korrekturen

Ein Kapitel heißt »Die Körstube (IV): Korrekturen «, denn der Autor lässt sich von seiner »Tante K.« korrigieren und nimmt doch nicht ganz zurück, was er geschrieben hat. Er lässt es stehen:

Sie hätten, berichtigte Tante K., nicht die ganze Zeit auf Schreibtischen geschlafen, es sei arg genug gewesen, und L. habe nie im Stockbett geschlafen; das ist ein Irrtum, das kann ich genau sagen […]
ich habe alles falsch erinnert, ich habe meinen Kinderschlaf falsch geschlafen, meine Träume an einen falschen Ort verlegt; ja, jetzt weiß ich es, […]

Dieses Nachforschen und Korrigieren wird dem Leser nicht zu viel, weil er Anteil nimmt an beiden Hauptfiguren, dem »ich«, das erinnert, aber auch dem Jungen, an den erinnert werden soll. Und weil sich in der Nachprüfung Einsichten ergeben, die die psychologische Kraft des Erzählens demonstrieren:

das Haus war nicht übel, erzähl Tante K., wir schliefen in einem Bett, ich habe uns sogar Tee kochen können, und an der Decke des Zimmers, in dem wir schliefen, war ein breiter Sprung, darum hatten wir ein wenig Angst,
ich habe dieses Haus, auch dieses Zimmer vergessen gehabt, aber jetzt weiß ich, weshalb ich manchmal träume, ich läge in einem Bett unter einer gesprungenen Decke, der Sprung wird weiter, klafft und die Decke stürzt auf mich herab;

»Wenn man tief genug in sich selbst, in seine Eigenarten eindringt, taucht man unvermeidlich in anderen Menschen wieder auf«, schrieb der Bürgerrechtler und Theologe Howard Thurman. An diesen Satz musste ich bei der Lektüre von Zwettl häufiger denken. Nie wirkt es selbst-verliebt, was Härtling schreibt. Die Menschenfreundlichkeit, die ich aus seinen Kinderbüchern kannte, wendet er auch auf sich selbst an — und das war wohl eines der Rezepte, nach denen er zu »Leben lernte«. Bestimmt werde ich weiter Härtling lesen, um das noch besser zu verstehen.

P.S.

In einem Youtube-Video beschreibt Härtling Bilder seiner Kindheit vor und nach Zwettl. Mit einer angenehmen, sanften Stimme, die er auch als Moderator einer Literatursendung einsetzte.