Ulrike Sabine Maier aus Darmstadt ist Bewegungstherapeutin, Fachjournalistin für Physiotherapie, Schreibgruppenleiterin und freie Autorin. Die lange Reihe ihrer Qualifikationen enthält ein literarisches Akademiestudium an der FU Hagen und eine Ausbildung für kreatives und therapeutisches Schreiben bei Silke Heimes. Sie veröffentlicht Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften und gewann mehrere Schreibwettbewerbe, zuletzt den Putlitzer Preis 2018. Für das Romanprojekt »Lebensläufer« erhielt sie ein Arbeitsstipendium vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst.
(Ich kenne Uli von der Darmstädter Textwerkstatt, in der wir beide Mitglied sind, daher befrage ich sie im »Du«.)
Stefan Kappner: Liebe Uli, du hast nun deinen Roman »Lebensläufer« fast fertig geschrieben, der auf einer Biografie, oder genauer: auf mehreren wahren Lebensgeschichten basiert. Wie kam es dazu?
Ulrike Sabine Maier: In einem bewegungstherapeutischen Kontext lernte ich eine Frau kennen, die mich wegen Lähmungserscheinungen der Beine um Hilfe bat. Auf der Suche nach Ursachen kamen wir auf familiäre Vorbelastungen zu sprechen. Da erzählte sie von ihrer Mutter und plötzlich war die ganze Lebensgeschichte da – die Mutter im Widerstand bei der Weißen Rose, diverse, auch psychische Erkrankungen und deshalb nie Zeit für ihre Tochter, diese wiederum abgeschoben und emotional vernachlässigt. Wir fanden beide, dass diese Geschichte wert ist, erzählt zu werden, als Mutter-Tochter-Beziehung, als Zeitdokument und in der Ambivalenz eines Heroismus, der immer auch auf Kosten anderer geht.
Eintauchen in eine fremde Geschichte
»Plötzlich war die ganze Lebensgeschichte da«, schreibst du. Hat es nicht ziemlich lange gedauert, bis Du sämtliche Einzelheiten recherchiert hattest? Wie bist du dabei vorgegangen?
Die Recherche war deutlich aufwändiger als das Schreiben selber. Zuerst habe ich mir erzählen lassen, wie alles war, aber Erinnerungen sind keine Tatsachen, sie verschwimmen, verwischen und manchmal widersprechen sie sich sogar. Nach der Erstellung des groben Lebenslaufes, haben wir zusammen Berge an Unterlagen, Briefe und Bildern durchkämmt. Das sind oft schlecht sitzende Mosaiksteinchen, die man da zusammenfügt, weil ein Mensch viele Facetten und Rollen hat und dadurch oft ganz verschieden wahrgenommen wird.
Entscheidend ist auch das Eintauchen in die Orte, die Schauplätze aufzusuchen und die Atmosphäre aufzunehmen, die Stadtarchive zu durchsuchen, um das eigene Bild, das man sich gemacht hat, zu verifizieren.
Hilfreich sind dabei Zeitzeugen, die natürlich ihre Seite der Geschichte sehen. Und dann, gerade wenn man denkt, das Bild perfektioniert zu haben, kommt verschleppt eine entscheidende Aussage der Hauptquelle und alles steht wieder in einem anderen Licht da. Das passiert auch, wenn man schon begonnen hat zu schreiben.
Widersprüche und Dramaturgie
Wie bist du damit umgegangen, wenn Zeitzeugen oder schriftliche Quellen der ursprünglichen Geschichte widersprochen haben? Und von den Fakten abgesehen: Wie war es, wenn du die Sicht der Erzählerin selbst nicht teilen konntest? Hast du dann gesagt: Sie erzählen es so, aber ich muss es anders schreiben?
Da ich literarisch und nicht für jemanden schreibe, bleibt mir immer der Weg ins Fiktionale und das haben wir auch so kommuniziert.
Natürlich kann ich die Weltgeschichte nicht umschreiben, aber schon allein aus dramaturgischen Gründen, müssen Dinge spannend und plausibel geschrieben werden. Und wenn die Quelle etwas berichtet, das rein zeitgeschichtlich da nicht stattfinden konnte, muss sich die Äußerung den Fakten unterordnen.
Man muss sich manches als Autorin »zusammenreimen« und hat manchmal von außen einen neutralen, manchmal sogar einen analytischen Blick auf das Geschehen.
Trotzdem erlaube ich mir nicht, eine völlig neue Bewertung vorzunehmen. Bei Widersprüchlichkeiten lasse ich verschiedene Protagonisten zu Wort kommen, verändere damit die Perspektive und lasse den Leser entscheiden. Letztendlich geht es nicht um die Wahrheit, die gibt es nie, da es so viele subjektive Wirklichkeiten gibt.
Es geht darum, ein Schicksal oder Leid nachvollziehen zu können, zu verstehen, warum jemand etwas tut, das für Außenstehende eventuell verwirrend ist.
Literatur und Heilung
Glaubst du, dass du mit deinem Schreiben auch der Erzählerin/Protagonistin geholfen hast, ihr eigenes Schicksal besser zu verstehen? Kann die Literatur in diesem Sinne therapeutisch wirken? Das heißt, indem Sie uns hilft, unsere jeweiligen Geschichten zu verstehen und in der Folge auch besser mit ihnen leben zu lernen?
Das ist ein sehr großes und umfassendes Thema und ich will hier weiter ausholen.
Biographie-Arbeit hat immer etwas mit der Suche nach der eigenen Identität und ihrer Positionierung zu tun. Schon das Niederschreiben der eigenen Lebensgeschichte bewirkt ungeheuer viele Dinge. Ich als betroffene Person kann etwas »von der Seele schreiben«, es einem Stück weißem Papier anvertrauen, und damit einem geschützten Bereich übergeben. Ist meine Geschichte dort aufgehoben, kann ich das Geschehen »von oben« betrachten, mich ein Stück weit zurückziehen und damit das Geschehen viel entspannter bewerten und überblicken.
Der Gewinn steigert sich, wenn ich einen anderen Menschen das Schreiben überlasse. Das ist wie in der Psychotherapie: Ich kann mit mir selber reden, aber mehr Effekt erziele ich durch ein reflektierendes Gegenüber.
Mit Hilfe eines Autors, der für mich diese Geschichte schreibt, bekomme ich erst einmal eine wohlwollende Außenperspektive. Ein Biograph befasst sich intensiv mit meinen Erlebnissen, Gefühlen und Gedanken, schenkt mir Aufmerksamkeit und seine Ausdrucksstärke. Wie die Skulptur eines Bildhauers wird das Geschehen auf einen Sockel gehoben, bekommt also mehr Bedeutung, mehr Licht und man kann um die »Lebens-Skulptur« herumgehen und sie von allen Seiten liebevoll betrachten.
Damit habe ich mein Leben durch den Biographen in eine literarische Kunstform gegossen, die jetzt auch für andere spannend und bereichernd ist.
All diese Mechanismen haben natürlich heilende Effekte.
»Am Ende werden wir alle Geschichten«
Und jetzt ganz konkret zu meiner Protagonistin beziehungsweise Erzählerin:
Sie konnte durch die Metamorphose ihrer Lebensgeschichte zu einem literarischen Werk, nach eigenen Angaben, das Geschehen neu bewerten, neue Zusammenhänge und Plausibilitäten erkennen. Dadurch konnte sie mit vielen Dingen abschließen, die ihr bis dahin wie ein blockierter Halswirbel die Bewegungsfreiheit genommen hatten.
Manche Verbitterung löste sich auf und auch tragische Ereignisse gewannen einen tieferen Sinn. Ich glaube, das erleichterte ihr das Annehmen des eigenen Lebenslaufes, so wie er sich gestaltet hat.
Grundsätzlich können wir, Autorin und Erzählerin, feststellen:
Dinge, die wehtun, wollen nicht geschont, sondern angeschaut werden. Das Schreiben (lassen) kann dafür ein sehr behutsamer Weg sein. Lose Enden bleiben natürlich immer. Damit zu leben und daran zu arbeiten ist ein Lebenswerk für uns alle.
Liebe Uli, vielen Dank für diese Überlegungen. Die Metapher von der Lebens-Skulptur werde ich mir merken. Meine letzte Frage: Wie geht es für Dich nun weiter? Schreibst Du, wenn der Biografie-Roman veröffentlichungsreif ist, womöglich gleich einen zweiten? Oder wendest Du dich eher wieder dem fiktionalen Schreiben zu?
Neben der Überarbeitung des Biografie-Romans muss ich auch noch zwei, drei andere Projekte abschließen, bevor ich neue Baustellen aufmache. Grundsätzlich kann ich mir, sobald der Kopf wieder frei ist, beides vorstellen, Biografie und Fiktion – und letztendlich beinhaltet jeder Text biographischen Inhalt. Um ein Zitat von Margaret Atwood zu bemühen: “Am Ende werden wir alle Geschichten werden.” Lasst uns diese unbedingt aufschreiben!
Wenn das kein Schlusswort ist!
[Aufgrund der Corona-Beschränkungen wurde das Interview per E-Mail geführt.]