Was sich hinter dem unterkühlten Titel »Arbeit und Struktur« verbirgt, ist das Protokoll einer Krankheit bis zum Tode, aber auch mehr als das. Die Genauigkeit des autobiografischen Zeugnisses macht es zu einem Buch, mit dem wir das menschliche Los etwas besser begreifen können, das uns alle verbindet.
Nach einer ersten Operation stellten die Ärzte fest, dass es sich bei der »Raumforderung« im Kopf des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf um ein Glioblastom handelte. »Das ist etwas Gehirneigenes, das bildet keine großen Metastasen, wächst nur sehr schnell […] und ist zu hundert Prozent tödlich« , schreibt er. Die Wucht der Diagnose in Verbindung mit den Nachwirkungen der OP ließ Herrndorf in eine Psychose schlittern (die er brillant beschreibt), sodass ihn seine Freunde in die Psychiatrie brachten. Um sie auf dem Laufenden zu halten, begann er, ein Blog (Web-Log, digitales Tagebuch) zu schreiben, dass er später öffentlich fortführte. Unter der Internetadresse www.wolfgang-herrndorf.de ist das Blog-Archiv noch immer in der ursprünglichen Fassung zu finden. Die Blog-Einträge reichten schließlich vom 8. März 2010 bis zum 20. August 2013. Am 26. August nahm sich Herrndorf das Leben, kurz bevor sein Gehirn/Bewusstsein vom Tumor ganz zerstört worden wäre.
Man darf sich das Buch jedoch nicht als bloße Aneinanderreihung von Tagebucheinträgen vorstellen, mehr oder weniger interessant, schwankend im Stil. Vielmehr überarbeitete der Autor seine Einträge zunächst selbst, dann mit Hilfe der Herausgeber Marcus Gärtner und Kathrin Passig, und sorgte dafür, dass das Buch lektoriert und redigiert wurde. Insofern ähnelt es eher einem »Schriftsteller-Tagebuch«, wie denen von Max Frisch oder Peter Rühmkorf, die bereits im Bewusstsein der geplanten Buchveröffentlichung geschrieben wurden, als einem »gewöhnlichen« Blog. Darum schrieb Herrndorf wohl auch die fünfzigseitige Rückblende, in der er die Geschichte seiner Krankheit bis zum Beginn des Blogs erzählt, und die im Oktober 2010 eingefügt ist. (Rätselhaft bleibt mir, nach welchen Kriterien Blog und Buch außerdem in 42 nummerierte Kapitel eingeteilt wurde, die im Durchschnitt etwa 10 Seiten umfassen. Ist das eine literarische Anspielung?)
Die Entstehung des Titels »Arbeit und Struktur« erklärt Herrndorf so:
Es ist vor allem dieses Gespräch mit einem Unbekannten, das mich aufrichtet. Ich erfahre: T. hat als einer der Ersten in Deutschland Temodal bekommen. Und es ist schon dreizehn Jahre her. Seitdem kein Rezidiv. Seine Ärzte rieten nach der OP, sich noch ein schönes Jahr zu machen, vielleicht eine Reise zu unternehmen, irgendwas, was er schon immer habe machen wollen, und mit niemandem zu sprechen. Er fing sofort wieder an zu arbeiten. Informierte alle Leute, dass ihm jetzt die Haare ausgingen, sich sonst aber nichts ändere und alles weiterliefe wie bisher, keine Rücksicht, bitte. Er ist Richter. Und wenn mein Entschluss, was ich machen wollte, nicht schon vorher festgestanden hätte, dann hätte er nach diesem Telefonat festgestanden: Arbeit. Arbeit und Struktur.
Für Herrndorf heißt arbeiten: schreiben. Produktiv wie nie vollendet er in den Monaten und Jahren nach seiner Diagnose die Romane »Tschick« und »Sand«. Der Erfolg des ersteren erlaubt es ihm, ein gutes Jahr vor seinem Tod erstmals in eine größere und freundlichere Wohnung umzuziehen. Zuvor lebte er ein spartanisches Einzimmerleben in Berlin. Doch es geht ihm nicht um den finanziellen Erfolg: Die plötzliche Gegenwart der Endlichkeit (ein Glioblastom führt oft auch in bloß einem oder zwei Jahren zum Tod), führte zu klareren Entscheidungen und einer effektiveren Arbeitsweise. Und die Arbeit hielt ihn in der Spur, gab ihm die Kraft, insgesamt vier OPs, Chemotherapien und die epileptischen An- und Ausfälle durchzuhalten, die die Beschädigungen des Gehirns mit sich brachten. Der sportliche Mann verliert zunehmend die Kontrolle über seinen Körper. Er erleidet Sprachstörungen.
Während der Lektüre musste ich fortwährend daran denken, was die Mutter eines ehemaligen Freundes einmal zu mir sagte, gut dreißig Jahre ist es her: »Die Sterblichkeit beträgt hudnert Prozent.« Was Herrndorf im Zeitraffer erleben musste, steht uns in der einen oder anderen Form allen bevor. Unsere Zeit ist begrenzt — wie gehen wir damit um? Dieser existentiellen Frage konnte sich Herrndorf nicht entziehen, wie wir uns oft entziehen, indem wir den Zeitpunkt unseres Todes gedanklich in eine ferne Zukunft verlegen, und das selbst im fortgeschrittenen Alter. Es ist unser Gewinn, dass er ihr mit soviel Ehrlichkeit, Sprachgewandtheit und — ja: — Stil begegnete. Damit nähert er sich auch dem Sinn des Autobiografischen, das immer auch ein Kampf gegen die Windmühlenflügel des Vergessens ist, das immer auch der Arbeit des Sisyphos gleicht.
In einem Fragment, das die Herausgeber keinem Datum zuordnen konnten, und das deshalb in einem Anhang steht, zieht Herrndorf eine Art negativer Lebensbilanz, in der der letzte Satz verblüffend heraussticht:
Ich kann kein Instrument spielen. Ich kann keine Fremdsprache. Ich habe den Vermeer in Wien nie gesehen. Ich habe nie einen Toten gesehen. Ich habe nie geglaubt. Ich war nie in Amerika. Ich stand auf keiner Bergspitze. Ich hatte nie einen Beruf. Ich hatte nie ein Auto. Ich bin nie fremdgegangen. Fünf von sieben Frauen, in die ich in meinem Leben verliebt war, haben es nicht erfahren. Ich war fast immer allein. Die letzten drei Jahre waren die besten.
(Das obige Bild bedient sich wie der Umschlag des Rowohlt-Taschenbuchs eines Gemäldes von Jacob Isaackszon van Ruisdael: »Ansicht von Haarlem mit Bleichfeldern«.)